Jungborn: Nackt-Wellness in der Kaiserzeit
Vor mehr als 100 Jahren war der Ostharz ein holistisches Wellness-Zentrum: Im Jungborn wurde nackt geturnt und Erde getrunken. Sogar Mahatma Gandhi schickte einen Abgesandten in die Wälder.
Eigentlich ist da keine Hoffnung mehr. Seit Jahren schon leidet Adolf Just an einer Nervenkrankheit. Sie in den Griff bekommen oder gar heilen? Die Ärzte haben längst abgewunken. Doch der junge Mann aus dem Südharz mit dem markanten Vollbart entscheidet sich für einen radikalen Weg: Er liest Bücher über Naturheilkunde, stellt seine Ernährung um, geht regelmäßig barfuß in den Wald. Und siehe da: Aus dem unheilbar Kranken wird ein kerngesunder Mensch. Die Geschichte könnte aus einem Magazin für Alternativmedizin stammen - doch sie ereignet sich vor über 100 Jahren. Und sie macht Adolf Just zu einer Art "Guru" für eine holistische Heilslehre, der Abertausende folgen werden, deren Anhänger sich gerne nackt im Gras rollen und von der sich sogar Mahatma Gandhi inspirieren lässt.
Adolf Just lebt als exzentrischer Einsiedler
Das Zentrum des frühen Wellness-Kults: das Eckertal zwischen Bad Harzburg und Stapelburg im heutigen Sachsen-Anhalt. Einen passenderen Ort gibt es kaum: viel Wald, eine Menge frische Luft - und vor allem herrscht Ruhe. Doch bevor Just Ende des 19. Jahrhunderts diesen Fleck Idyll entdeckt und zum Wellness-Zentrum macht, gilt der Mann als Außenseiter. In Lüthorst bei Northeim geboren, lernt Just zwar ganz bürgerlich in Braunschweig das Buchhändler-Handwerk. Dem Stadtleben kann er aber nicht viel abgewinnen: Von seiner Spontan-Heilung beseelt, haust er in einer primitiven Hütte im Wald und lebt von Beeren und Nüssen. Nicht wenigen gilt er als suspekt.
Sanatorium Jungborn: Nackt-Wellness wird trendy
Doch Just ist derart überzeugt von seiner Methode, dass er zwei Bücher schreibt und anfängt, andere zu inspirieren. Im Eckertal gründet er 1896 seinen Jungborn - abgeleitet von Jungbrunnen. Das Sanatorium wächst schnell zu einer riesigen Kur-Anstalt mit Dutzenden Gebäuden an, in der zur Blütezeit in den 1920er-Jahren zeitgleich bis zu 250 Menschen leben. Sie alle wollen aus der Enge der Industrie-Gesellschaft ausbrechen - sei es nur für kurze Zeit. Manchmal sind die Gäste krank, haben Lungenbeschwerden oder Nervenleiden. Manchmal sind sie einfach nur zu dick und gestresst. "Ein bisschen wie heute", sagt Axel Jordan vom Geschichtsverein "Jungborn Harz". Er und seine Kollegen kümmern sich um den Nachlass des einstigen Jungborn und Jordan findet: Die Botschaft der Vintage-Wellnesser ist aktueller denn je.
Vier Elemente fürs Körperheil
Denn Justs Ansatz ist sprichwörtlich "back to the roots": Je näher an der Natur ein Mensch lebe, desto gesünder sei er. Die vier natürlichen Elemente gelten als Medikamenten-Ersatz: Wasser, Erde, Luft und - statt des klassischen vierten Elements Feuer - Sonnenlicht. Im Jungborn wird deswegen in hölzernen "Lichtlufthäuschen" übernachtet. Nachts ist so für Frischluft gesorgt, tagsüber kommt viel Licht hinein. Doch meist bewegen sich die Kurgäste ohnehin draußen. Am liebsten nackt: Sport, Spaziergänge, Bodenturnen im Gras - alles FKK. "Das ließ frische Luft und Sonne an den Körper", sagt Jordan. In der Kaiserzeit gilt das nicht unbedingt als anständig, den Jungbornern ist die ersehnte labende Wirkung aber offenbar wichtiger. Immerhin: Frauen und Männer haben ihre eigenen Nacktbereiche.
Die Superwaffe aus der Erde
Als stärkend gilt auch klares Harzwasser, genau wie frisches Obst und Gemüse, das im eigenen Jungborn-Garten angebaut wird. Oft harken und jäten die im Berufsalltag chronisch unterbewegten Kurgäste selbst. Fleisch sucht man auf dem Speiseplan vergebens - Jungborner sind Veggies. Doch als wahre Medizin-Wunderwaffe gilt den Wellness-Jüngern sogenannte Heilerde, nach einer Rezeptur von Adolf Just hergestellt. Auf die Haut aufgetragen soll das aus eiszeitlichem Löß gewonnene Granulat die Durchblutung anregen. In Wasser verrührt und getrunken wird die Erde gegen Magenprobleme oder Mineralien-Mangel eingesetzt. Just wird daraus später eine Geschäftsidee machen, den Jungborn verlassen und eine Firma gründen, die diese Heilerde bis heute vertreibt.
Wenn Kafka kommt, wird Gandhi hellhörig
Doch wer glaubt, die Jungborner der Kaiserzeit sind Esoterik-Spinner, liegt falsch. "Das alles war zur damaligen Zeit unglaublich populär", sagt Jordan vom Jungborn-Verein. In jenen Tagen blüht nämlich nicht nur die Industrie, sondern auch die passende Gegenbewegung. Die Anhänger der "Lebensreform" kritisieren die Industrie-Gesellschaft als krankmachend und propagieren eine naturnahe Lebensweise - genau wie Adolf Just. Dessen Jungborn wird dann auch irgendwann so trendy, dass sogar namhafte Künstler hier in den Wäldern "abtauchen": "Franz Kafka soll hier seine Schreibblockade gelöst haben", erzählt Jordan, der zig historische Quellen gesichtet hat. Auch der Schauspieler Hans Albers streifte demnach nackt durchs Gras. Irgendwann reicht der Ruf der Harz-Wellness offenbar bis nach Indien, von wo Mahatma Gandhi einen Abgesandten ins Eckertal schickt. Ob der Jungborn auch einen Einfluss auf den indischen Revolutionsführer hat? "Genau weiß man das nicht", sagt Jordan.
Jungborn und Lebensborn?
Eine Verbindung kann der Vereinsvorsitzende aber gänzlich ausschließen: Mit dem späteren Lebensborn der Nazis, einem Verein, der sich der Vermehrung angeblich arischen Nachwuchses verschrieben hatte, habe der Jungborn trotz der Namensähnlichkeit nichts zu tun. Zwar gab es im Dritten Reich völkische Körperkulte. Und auch Nazis waren irgendwann Kurgäste im Jungborn. "Die Familie Just hatte mit denen politisch aber nichts zu tun", so Jordan.
Wellness geht auch ohne FKK
Trotzdem ist mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch im Jungborn Schluss. Das Eckertal liegt nur wenige Meter hinter der späteren innerdeutschen Grenze, mitten im Sperrgebiet. Das Gelände wird platt gemacht. Was von der Naturheilanstalt zurückbleibt, holt sich ausgerechnet die Natur zurück. Doch Jordan und seine Kollegen halten die Erinnerung noch heute wach. Das geht so weit, dass sie zwei der ehemaligen "Lichtlufthäuschen" auf dem Gelände nachgebaut haben. Außerdem findet jedes Jahr im Juni ein großes "Jungbornfest" in Stapelburg statt - samt Heilerde-Anwendungen, Kräuterwanderungen und Yoga im Freien. Nackt ist dabei laut Jordan aber keiner - so weit gehe der Jungborn-Kult dann auch wieder nicht.