"Die Sturmflut am Ostseestrand: Das holsteinische Dorf Hafkrug an der Neustädter Bucht während der Sturmflut" (13. November 1872), Holzstich nach Zeichnung von Karl Heyn nach einer Skizze von Karl Rettich. Aus: Illustrierte Zeitung, 59. Band, Nr. 1538, Leipzig, 21. Dezember 1872, S. 477, Berlin, Slg. Archiv f. Kunst & Geschichte. © picture-alliance / akg-images

Jahrtausendflut an der Ostsee: Hochwasser bis heute unerreicht

Stand: 23.11.2022 10:00 Uhr

Die Sturmflut an der Ostsee in der Nacht vom 12. auf den 13. November 1872 gilt als Jahrtausend-Ereignis. Von Dänemark bis Pommern steigt das Wasser auf seitdem nicht mehr erreichte Höchststände. 271 Menschen sterben.

von Jürgen Opel

In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1872 sucht eine fürchterliche Sturmflut die südliche Ostseeküste von Dänemark bis Pommern heim. Höher ist das Wasser danach bisher nicht wieder gestiegen. Bei solchen außergewöhnlichen und für viele Küstenbewohner tragischen Naturereignissen kommen viele Faktoren zusammen. Die Windstärke und die Windrichtung, die Strömungsverhältnisse, das Wetter unmittelbar vor dem Sturm und die Beschaffenheit der betroffenen Küste spielen eine Rolle. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse der tragischen Nacht im November 1872 greifen die Wissenschaftler der unterschiedlichen Fachrichtungen sogar auf Daten und Berichte aus dem frühen 19. Jahrhundert zurück.

Das Wasser schwappte zurück

Stark vereinfacht liest sich sich die Geschichte der Katastrophennacht so: Es gab einen tüchtigen Sturm aus Südwest; nicht ungewöhnlich im November. Die Wassermassen in der Ostsee schwappten - wenn man so will - in Richtung Finnland und Russland. Gleichzeitig drückte die Nordsee ihre Fluten in die westliche Ostsee. Dann schlug allerdings der Wind um. Aus dem Sturm wurde ein Orkan aus Nordwest. Als würde man eine gefüllte Badewanne anheben, flutete die Ostsee zurück. Weil das Wasser nur viel zu langsam in die Nordsee abfließen konnte, staute es sich. Es stieg und stieg - auch an der Ostseeküste zwischen Eckernförde bis hin nach Usedom. Mancherorts wurden Pegelstände von mehr als 3,3 Meter über Normal gemessen.

Wegen seiner Lage an der weit nach Nordosten geöffneten Eckernförder Bucht trug Eckernförde die wohl schwersten Schäden aller deutschen Küstenorte davon: Innerhalb kürzester Zeit wurde der Damm zerstört, der den Binnensee Windebyer Noor von der Ostsee trennt. Das gesamte Stadtgebiet wurde überflutet und von der Außenwelt abgeschnitten. Auch die Insel Fehmarn wurde zu etwa einem Drittel ihrer Fläche überschwemmt und insbesondere die Küstenorte in der Lübecker Bucht standen unter Wasser und mussten neun Tote verzeichnen.

Der Morgen danach: Land unter!

"Die Sturmflut am Ostseestrand: Überschwemmter und versandeter Garten in Bad Niendorf" (13. November 1872), Holzstich nach Zeichnung von Carl Oesterley (1805-1891. Aus: Illustrierte Zeitung, 59. Band, Nr. 1538, Leipzig, 21. Dezember 1872, S. 477, Berlin, Slg. Archiv f. Kunst & Geschichte. © picture-alliance / akg-images
Mindestens 271 Menschen verloren bei der Sturmflut 1872 ihr Leben, mehr als 15.000 wurden obdachlos.

Für Rostock-Warnemünde ist der Höchststand am 13. November mit 2,71 Meter überliefert. Der Heimatforscher Friedrich Barnewitz schrieb 1919 in seiner Ortschronik: "Warnemünde lag auf einer Insel. (…) Das Wasser drang in die Häuser, die Bewohner flüchteten in die neu erbaute Kirche, wo die Flüchtlinge schließlich auf die Bänke steigen mussten." Als das Wasser weiter stieg, holte man schließlich mit Booten die Leute aus der Kirche. Im Rostocker Stadthafen wurden 70 Schiffe auf Land gesetzt und schließlich zerschlagen, so heißt es in Zeitzeugen-Berichten. Vom bewohnten Teil der Insel Hiddensee war am nächsten Morgen nicht viel mehr zu sehen als das hochliegende Kloster.

271 Menschen kamen in den Fluten um

Im Greifswalder Ortsteil Wieck wurden fast alle Gebäude zerstört und neun Menschen ertranken. Die Trümmer der Häuser trieben bis in die Innenstadt von Greifswald. Peenemünde auf Usedom wurde komplett überschwemmt. Der an der Ostseeküste liegende slawische Burgwall Schmiedeberg bei Alt Gaarz wurde weitgehend abgetragen, wie in einem Gedenkbuch des Pastors Gustav Quade aus dem Jahr 1872 zu lesen ist.

Insgesamt hat das Sturmhochwasser an der gesamten Ostseeküste mindestens 271 Menschen das Leben gekostet, 2.850 Häuser wurden zerstört oder stark beschädigt. 15.160 Menschen wurden obdachlos, mehr als 10.000 Haus- und Nutztiere ertranken.

Heutzutage wären 180.000 Menschen bedroht

Eine vergleichbare Flut würde heute allein in Mecklenburg-Vorpommern mehr als 180.000 Menschen bedrohen, so die Einschätzung des Umweltministeriums des Landes. Für Warnemünde zum Beispiel ist im Falle einer solchen Sturmflut mit einem Schaden von etwa 200 Millionen Euro zu rechnen, so das Staatliche Amt für Umwelt und Natur Rostock. Höher als 1872 ist das Wasser an der Ostseeküste bisher nicht wieder gestiegen. Deshalb gilt der Hochwasserstand vom 13. November 1872 heute noch als Grundlage für die Berechnungen beim Ausbau der Küstenschutzanlagen.

Weitere Informationen
Die Flut erreicht die Pricke von drei Seiten. © NDR/MedienKontor Oldenburg/Christian Kruse
ARD Mediathek

Gemeinsam gegen die Sturmflut - Retten, was zu retten ist

Eine schwere Sturmflut trifft auf die Küste: Einsatzkräfte, Gastronomen und ein Kapitän kämpfen gegen das Wasser. Video

Kupferstich vom Tornado bei Woldegk von 1764 © Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Schwerin Foto: Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Schwerin

Der Jahrtausendtornado von Woldegk vom 29. Juni 1764

1764 wütet bei Woldegk der wohl stärkste in Deutschland bekannte Tornado. Für die Einheimischen hat er katastrophale Folgen. mehr

Luftaufnahme vom Hamburger Umland nach der Sturmflut 1962 © dpa/ picture alliance Foto: UPI

Die schwersten Stürme und Fluten in Norddeutschland

Tote, Verletzte, Milliardenschäden: Immer wieder ziehen heftige Orkane über den Norden hinweg - diese werden den Menschen in Erinnerung bleiben. mehr

Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 13.11.2022 | 19:30 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Neuzeit

Mehr Geschichte

Bertha Keyser, der "Engel von St. Pauli" © Hauptkirche St.Michaelis

60. Todestag von Bertha Keyser: Der echte "Engel von St. Pauli"

Bertha Keyser hat sich ein halbes Jahrhundert lang um Arme und Obdachlose in St. Pauli gekümmert. Am 21. Dezember 1964 starb sie. mehr

Norddeutsche Geschichte