Itzehoes Störschleife lässt die Bürger nicht los
Bilder von früher im Vergleich mit Fotos von heute - möglichst aufgenommen von exakt derselben Position: Das ist das zentrale Element der Serie "Schleswig-Holstein früher und heute". So wollen wir den Wandel der Städte im nördlichsten Bundesland dokumentieren. NDR Autoren tauchen in die Stadtarchive ein. Dabei fördern sie persönliche Geschichten und historische Aufnahmen zu Tage, die teilweise in großem Kontrast zur Gegenwart stehen. Ein interaktiver Foto-Vergleich macht das besonders deutlich.
Eine Joggerin läuft am grünen Ufer entlang, auf dem Wasser legt sich ein Ruderer in die Riemen: Die Stör ist heute vor allem ein Sport- und Naherholungsgebiet für die Itzehoer. Früher brachte der Nebenfluss der Elbe den Menschen neben dem Handel auch Überschwemmungen und Ratten. Geprägt hat die Stör die Stadt jedenfalls schon immer. Die Itzehoer identifizieren sich mit ihrem Fluss - und streiten um ihn.
Nichts sieht hier mehr wie früher aus. Dort, wo 1961 noch die Störschleife durch die Neustadt fließt, vorbei am Hauptzollamt, ist heute nur noch Gras. Im Hintergrund sieht man das Theater von Itzehoe.
Neustadt ist die alte Stadt
Ingo Lafrentz erlebt das seit 50 Jahren mit. Ende der 60er-Jahre zieht er als junger Lehrer nach Itzehoe. "Damals war das hier alles Sanierungsgebiet", erinnert sich der 77-Jährige. Der pensionierte Geschichtslehrer, der heute unter anderem als Stadtführer tätig ist, steht in der Wallstraße und erzählt von Hochwasser, fehlender Kanalisation, stinkendem Gewässer und nassen Gebäuden, mit denen sich die meist ärmere Bevölkerung der sogenannten Neustadt damals herumschlagen muss. Die Neustadt, das ist interessanterweise der alte Teil von Itzehoe, nämlich der, der innerhalb der Störschleife lag.
Störschleife führt um Ringwallburg
Die Schleife legen Bewohner der Region vor mehr als 1000 Jahren an. Mit einem Durchstich holen sie damals den Fluss ins Land. Die Störschleife bietet auf einer Fläche von etwa zehn Hektar Schutz vor Angreifern. Um das Jahr 1000 nach Christus entsteht hier eine Ringwallburg, die Billunger Burg. Die gibt es heute nicht mehr. Vergessen ist sie nicht. Ingo Lafrentz führt eine kleine Treppe hinauf - auf eine gepflasterte Straße namens Burg. "Das ist die älteste Stelle Itzehoes", sagt er - fast andächtig.
Auf dem Foto von 1970 sieht man links noch das Gebäude der Zuckerfabrik. Heute ist dieser Bereich der Wallstraße von Backsteinbauten geprägt.
Eine Steintafel erinnert an das alte Bollwerk. Das - und vor allem die schützende Störschleife - beeindruckt einst auch Adolf IV. von Schaumburg, Graf von Holstein und Stormarn. So sehr, dass er Itzehoe 1238 mit dem Lübschen Stadtrecht ausstattet. Kurz darauf bekommt Itzehoe auch das Stapelrecht. "Alle flussaufwärts fahrenden Schiffe mussten ihre Waren hier ausladen, stapeln und zum Verkauf anbieten. Und, obwohl sie es eigentlich nicht durften, hielten die Itzehoer auch die flussabwärts fahrenden Schiffe an", schmunzelt Lafrentz. Itzehoe floriert.
In den 1930er-Jahren machten Schiffe am Ladeplatz Bekstraße fest. Heute ist hier ein Wasserlauf mit Weg angelegt.
Im Kreuzgang steckt noch Mittelalter
Doch 1657 wird all das zerstört. "In der Nacht vom 7. auf den 8. August verbrannte ganz Itzehoe", berichtet Lafrentz. Es herrscht Krieg zwischen Dänemark, zu dem Itzehoe gehört, und Schweden. "Mit glühenden Kugeln schoss Karl X. Gustav, König von Schweden, Itzehoe damals in Brand", so Lafrentz. Zuvor hatte Itzehoe sich geweigert, den schwedischen Herrscher einzulassen. Nur der Kreuzgang aus dem Jahre 1430 der St. Laurentii-Kirche übersteht das Inferno.
Der Kreuzgang der St. Laurentii-Kirche übersteht den Brand Itzehoes 1657 - als einziges Bauwerk der Stadt. Er stammt aus dem Jahre 1430. Heute gehört er zum Klostergelände.
Ingo Lafrentz führt durch die Kirche zu diesem ältesten noch erhaltenen Bauwerk Itzehoes. Er steht unter der gewölbten Decke des Ganges und weist auf die Wand. "Hier kann man Gedenktafeln der Äbtissinnen erkennen - und hier Familienwappen." Teilweise sind die Bilder und Inschriften in dem Sandstein aber nur zu erahnen. Lafrentz ist trotzdem tief beeindruckt, auch wenn er diesen Ort schon in- und auswendig kennt. "Wenn man sich mal einen Moment vorstellt, wie es mal ausgesehen haben könnte: Es muss wunderschön gewesen sein," sagt er.
Auch der Blick von der Kirchenstraße auf die St. Laurentii-Kirche hat sich von 1950 zu heute verändert.
Störschleife wird zugeschüttet
Mit viel zu wenig Geld bauen die Itzehoer ihre Stadt nach dem Brand wieder auf. Was dazu führt, dass die Bausubstanz nicht die Beste ist - und ein Grund dafür ist, dass es in der Neustadt bröckelt und schimmelt, als Ingo Lafrentz 1968 nach Itzehoe zieht. "Außerdem war ein Arm der Störschleife versandet. Es gab hier eine Rattenplage", erinnert er sich. Wegen der Kreide- und Tonvorkommen in der Region haben sich mit der Industriealisierung mehrere Zementfabriken in und um Itzehoe angesiedelt. "Der ganze Schwerlastverkehr für die Fabriken wühlte sich hier durch die Neustadt", erzählt Ingo Lafrentz. Das Ende vom Lied: Die Stadtväter greifen durch, lassen zwischen 1974 und 1975 die Störschleife zuschütten und sanieren die Neustadt.
Beginn von Parlamentarismus
Einfache Backsteinhäuser prägen heute dort das Bild. Die Straßen folgen zum Teil noch der ehemaligen Störschleife, zeichnen den einstigen Verlauf im Asphalt nach. Sie erinnern an die mittelalterliche Struktur der Stadt. Und ihre Namen erzählen Geschichte. Die Wallstraße hat ihren Namen von der alten Ringwallburg, in der Reichenstraße lebten wohlhabende Kaufleute, in der Fischerstraße die armen Fischer.
1964 sieht der Itzehoer beim Blick über die Stör noch die Zementfabrik. Heute haben sich dort verschiedene Fachmärkte niedergelassen.
Lafrentz läuft von der Salz- zur Wallstraße am neuen Theater vorbei, das genau an der Stelle seinen Platz hat, wo einst die Ringwallburg und später die Zuckerfabrik der Stadt standen. Im Mittelpunkt des Hufeisens: Der Markt mit seinem historischen Rathaus von 1695. Darinnen befindet sich auch der Ständesaal, in dem ab 1835 die Holsteinische Ständeversammlung tagt. "Das war ein klitzekleiner Beginn von Parlamentarismus", sagt Lafrentz.
1969 durften die Autos noch direkt vor dem historischen Rathaus parken.
Zwischen dem neuen Theater und der Salzstraße fallen längliche Wasserteiche auf. "Die wurden nach 1975 angelegt, um den Itzehoern den Phantomschmerz zu nehmen", erinnert sich Lafrentz. Denn viele Itzehoer trauern ihrer Störschleife noch immer hinterher. Und einigen von ihnen reichen die Teiche nicht. Der Verein "Störauf" kämpft seit 2011 dafür, wieder einen Wasserlauf innerhalb der ehemaligen Störschleife und um das Theater herum anzulegen. "Der Gedanke ist, dass Itzehoe damit attraktiver wird, auch für die Wirtschaft", fasst Lafrentz zusammen.
Viele gehen, wer bleibt?
Denn der Strukturwandel macht auch vor Itzehoe nicht halt. Die Breite Straße, laut Ingo Lafrentz einst der Broadway der Stadt, ist an vielen Stellen von leeren Schaufenstern geprägt. Waren kommen längst nicht mehr per Schiff über die Stör, die einst wichtige Zuckerfabrik hat ihre Tore geschlossen, die Zementindustrie produziert nur noch im benachbarten Lägerdorf. Jüngst hat auch die Druckerei Prinovis der Stadt den Rücken gekehrt. Und die einzige Diskothek am Ort, der Cheyenne Club, hat gerade dichtgemacht.
1969 fahren noch Autos durch die Breite Straße. Später entsteht eine Fußgängerzone. Inzwischen dürfen hier wieder Kfz durchfahren.
Scheitelpunkt überschritten
Ob ein Wasserlauf an der alten Störschleife der Stadt zu altem Glanz verhelfen kann? Ingo Lafrentz ist skeptisch. Er verweist auf die Firmen, die noch am Ort sind: Das Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie ISIT und das Innovations- und Technologiezentrum IZET haben ihre Standorte in der Stadt. Das Theater ist auch in der Umgebung bekannt. Und Itzehoe hat ein Schwimmbad, was auch nicht jede Kleinstadt von sich sagen kann. Ingo Lafrentz glaubt, dass der Strukturwandel gestoppt ist. "Ich glaube, wir haben den Scheitelpunkt überschritten." Er schätzt Itzehoe. "Ich bin hier hängen geblieben und habe diese Stadt lieben gelernt", sagt er und erzählt von seiner Frau, seinen beiden Kindern, Freunden und seinen zig ehrenamtlichen Engagements, die ihn mit der Stadt verbinden. "Inzwischen bin ich Eingeborener geworden."