Eine Fotografie aus dem Jahr 1910 zeigt den Fußballplatz "Kleine Exer" in Braunschweig. © Stadtmarketing Braunschweig / Archiv Kurt Hoffmeister

Braunschweig: Die heimliche Hauptstadt des runden Leders

Stand: 29.09.2024 00:00 Uhr

Am 29. September 1874 wurde in Braunschweig das erste Fußballspiel nach Regeln ausgetragen. Es markierte die Geburtsstunde des Fußballs in Deutschland. Der Gymnasiallehrer Konrad Koch war dabei federführend.

von Susanne Nickel und Andreas Schlebach

Die positiven Auswirkungen sportlicher Aktivitäten an frischer Luft hat Konrad Koch schon früh erkannt. Der promovierte Gymnasiallehrer für Alte Sprachen und Deutsch am traditionsreichen Braunschweiger Martino-Katharineum führte 1872 zusätzlich zum bereits damals bestehenden Turnunterricht sogenannte Schulspiele ein und wurde dabei von seinem Kollegen August Hermann (1835 - 1906) unterstützt. In diesem Zusammenhang kam es 1874 zum ersten Fußballspiel im Schulunterricht. Ausgetragen wurde es, wie Sporthistoriker Kurt Hoffmeister herausfand, am "Michaelistag" - also am 29. September - von Schülern des Martino-Katharineums unter der Leitung von Koch und Hermann, die die wichtigsten Regeln mitteilten.

Die Beine des Fußballspielers Franz "Bimbo" Binder (Rapid Wien) mit einem Fußball aus Leder, 1950. © picture alliance / brandstaetter images/Votava Foto: brandstaetter images/Votava
AUDIO: 29. September 1874: Erstes Fußballspiel nach Regeln (3 Min)

Konrad Koch warf eine Ochsenblase mit Lederhülle aufs Feld

Konrad Koch © Braunschweig Stadtmarketing GmbH
Doktor, Lehrer, Pädagoge und ein Freund des Sports: Konrad Koch, Begründer der Fußball-Regeln in Deutschland.

Konrad Koch warf an diesem Nachmittag nach eigenem Bekunden einen Ball in die Mitte einer Wiese bei St. Leonhard vor den Toren der Stadt und notierte im Rückblick: "Der große Eifer, der alle zunächst Herangezogenen beseelte, machte es gleich im ersten Winter möglich, ja nötig, zweimal in der Woche, am Mittwoch- und dem Sonnabendnachmittag zu spielen; dabei war die Beteiligung der Einzelnen am Spiel durchweg rege und unablässig." Den Ball, eine mit Leder umhüllte Ochsenblase, hatte Hermann, der seit 1869 als Turnlehrer an dem 1415 gegründeten Gymnasium tätig war, aus England beschafft. Und damit hatte die Geburtsstunde des Fußballspiels in Deutschland geschlagen.

Ein Import aus England

Herübergeschwappt war die "Fußball-Welle" aus England, das insbesondere deshalb als das Mutterland des Fußballs bezeichnet wird, weil 1863 in London die Football Association (FA) gegründet wurde und durch ein umfangreiches Regelwerk die Entwicklung des gesamten Fußballs förderte. Die damalige Form des Spiels entsprach eher dem, was wir heute als Rugby kennen. Der Ball wurde also auch mit der Hand gespielt. Zur gleichen Zeit, als die Bedeutung des Fußballspiels als Freizeitbeschäftigung der englischen Landbevölkerung zurückging, wurde es an Privatschulen und Universitäten immer populärer. Bereits 1848 hatten Studenten der Universität Cambridge die ersten Fußballregeln verfasst. 1857 wurde der erste Fußballclub der Welt, der Sheffield F.C., gegründet. Allerdings waren die Regeln in England alles andere als einheitlich, was lange verhinderte, dass Fußballmannschaften verschiedener Universitäten gegeneinander antreten konnten.

So hatte es streng genommen bereits 1865 ein Fußballspiel auf deutschem Boden gegeben - und zwar in Stuttgart. Dieses fand jedoch nach den Regeln der Rugby School statt, ein Internat in der gleichnamigen englischen Grafschaft Warwickshire. Dort soll der Rugby-Sport entstanden sein.

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Gedenktafel für Konrad Koch vor dem Gymnasium Martino-Katharineum in Braunschweig © NDR Foto: Imke Caselli

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Erstes Fußball-Regelwerk in Deutschland

In Deutschland legte Konrad Koch 1875 erste Fußballregeln vor. Sie erschienen im Westentaschenformat und trugen noch die 4 F's für "frisch-fromm-fröhlich-frei" der Jahnschen Turnerschaft. Außerdem gründete er an seiner Schule den ersten Fußballverein. Der Pädagoge war in seinem ganzheitlichen Ansatz seiner Zeit weit voraus, wollte er doch bei der Einführung des Ballspiels an der Schule den Schülern - neben der sportlichen Betätigung - auch ethische Werte wie Disziplin und Teamgeist vermitteln. Dafür wurden die Regeln entwickelt, in denen zum Beispiel das Treten vor das Schienbein verboten wurde. "Fast alle Gesundheitsregeln aus Kochs Regelwerk wurden im gesamten deutschsprachigen Raum verbindlich übernommen, manche Anregung, beispielsweise die Abseitsregel, sogar weltweit", berichtet der Buchautor Kurt Hoffmeister.

"Auf dem Platz darf niemand sich hinlegen oder müßig stehen. Kein Schüler darf ohne besondere Erlaubnis den Rock ablegen; diese Erlaubnis wird nur denen erteilt, die ein wollenes Hemd tragen." Aus dem Regelwerk von Konrad Koch

Das erste Regelwerk von Koch sah noch vor, dass der Ball von den Spielern in die Hand genommen und getragen werden durfte. Erst 1882 wurde festgelegt, dass der Ball nur noch mit dem Fuß zu spielen sei.

Als Schiedsrichter fungierten noch die Mannschaftsführer selbst, die "Fußballkaiser" genannt wurden. 1888 fanden die ersten Vergleichswettbewerbe gegen Mannschaften aus Göttingen und Hannover statt, 1894 erste Spiele gegen Mannschaften aus England und den Niederlanden. Auf Bestreben von Konrad Koch und August Hermann wurde 1890 der Deutsche Fußball- und Cricket-Bund gegründet.  

Fußball wird gesellschaftsfähig

Von Braunschweig aus verbreitete sich der Fußballsport in rasantem Tempo, sodass Koch bereits 1894 in seiner "Geschichte des Fußballs" feststellen konnte: "Die Frage, ob Fußball in Deutschland eingeführt werden soll oder nicht, bedarf keiner Erörterung mehr, sie ist durch die Macht der Tatsachen entschieden." Allerdings entsprach dieser neue Mannschaftsport durchaus dem nationalistischen Zeitgeist. "Es ist eine glorreiche Tat, wenn ein Spieler mit dem Balle unter dem Arme den anderen mit Gewalt zur Seite stößt und so schließlich glücklich im feindlichen Male landet", schreibt Koch in seiner Fußballgeschichte. Mit kaiserlichem Segen Wilhelms II. setzte die preußische Obrigkeit alles daran, Fußball gesellschaftsfähig zu machen. Denn hier eröffnete sich ein ganz neues Terrain, auf dem sich Preußen mit England messen konnte.

Widerstände aus dem Turner-Lager

Plakat "Fußlümmelei" © Braunschweig Stadtmarketing GmbH
Von den Turnern anfangs verhöhnt: Fußball-Spiel - "Fußlümmelei" genannt.

Dabei hatte es Konrad Koch am Anfang alles andere als leicht gehabt, wurde er doch für seine Überzeugung als "Spiel-Apostel" oder "Spiel-Schwärmer" abqualifiziert. Widerstände gab es insbesondere aus dem Lager der Turner zu überwinden, die ihre nationale Stellung bedroht sahen und den Fußballsport entsprechend herabwürdigten. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Schrift "Fußlümmelei" von Prof. Karl Planck. Dort heißt es: "Zunächst ist jene Bewegung ja schon, auf die bloße Form hin angesehen, hässlich. Das Einsinken des Standbeins ins Knie, die Wölbung des Schnitzbuckels, das tierische Vorstrecken des Kinns erniedrigt den Menschen zum Affen."

Massensportart erst nach 1918

Bis in die 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts blieb der Sport in Deutschland die Domäne von Schülern höherer Lehranstalten. In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren setzte eine erste Welle von Vereinsgründungen ein. In den Fußballvereinen dieser Zeit dominierten Gymnasiasten und Studenten - Fußball war bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Domäne des gebildeten Bürgertums. Erst nach dem Ersten Weltkrieg schafft er den Sprung zur Arbeiter- und damit zur Massensportart. Fußball bewegt auch nach mehreren Generationen die Menschen, die mit ihm zu tun haben. Daran hat Konrad Koch an jenem "Michaelistag" 1874 wohl im Traum nicht gedacht.

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