Schweiß und Blut: Leben auf der Baustelle Nord-Ostsee-Kanal
Der Bau des Nord-Ostsee-Kanals lockt Ende des 19. Jahrhunderts Arbeiter aus ganz Europa an: mittellose Landarbeiter aus Ostpreußen wie Fachkräfte aus Russland und Italien. Die Bedingungen sind vergleichsweise gut. Dennoch kommt es zu etlichen Unfällen.
Als die Jobsuchenden in den Norden kommen, existiert der Nord-Ostsee-Kanal zunächst nur in der kühnen Vision eines Mannes: Otto Baensch, der "Geheime Oberbaurat" der Kaiserlichen Kanalbau-Kommission. Tausende Arbeiter sollen ab 1888 die ehrgeizigen Pläne seiner Ingenieure umsetzen. Das im Juni vor 125 Jahren fertiggestellte Mammutprojekt verlangt eine gewaltige Kraftanstrengung, es fließen Schweiß, Tränen - und Blut. Nicht wenige Arbeiter verlieren in den acht Jahren Bauzeit sogar ihr Leben.
NOK-Bau: Wirtschaftstreiber für die ganze Region
Junge Männer aus Italien sind in den späten 1880er-Jahren besonders willkommen im Norden Deutschlands. Denn die Gastarbeiter von südlich der Alpen gelten als fleißig und geschickt, darüber hinaus haben sie Erfahrung mit Großprojekten gesammelt. Dazu gehört der Bau des Gotthard-Tunnels.
Besonders Maurer, die Granitblöcke für die Brückenfundamente bearbeiten, und Sprengmeister sind gefragt. Auch junge Frauen kommen nach Kiel und Umgebung, um ihre Arbeitskraft anzubieten. Aber auf der Baustelle ist es ihnen verboten zu arbeiten, stattdessen gibt es für sie nur Tätigkeiten als Hauswirtschafterinnen. So lautet eine Verordnung der Kanalbau-Kommission: "Zur Beschäftigung beim Bau des Nord-Ostsee-Kanals werden nur männliche Arbeiter ab dem 17. Lebensjahr zugelassen." Doch nicht nur der Kanalbau selbst bietet Lohn und Brot, auch für die Region bedeutet er Arbeit: Scherenschleifer, Schmiede und Fassmacher liefern die nötigen Werkzeuge.
Arbeiter schwitzen in Schächten oder frieren im Wasser
Der Arbeitsalltag auf der Baustelle am Kanal ist hart, Tausende von Erdarbeitern schuften von von 5 bis 19 Uhr im häufig unwegsamen Gelände. Wo der lockere Sandboden keine Maschinen trägt, schaufelt ein Heer an Männern viele Kubikmeter Erdreich per Hand aus. Meter um Meter bis zur Kanalsohle. Wer im schmutzigen Moorboden gräbt, dem klebt Torf pfundschwer an Stiefeln und Kleidung. Arbeiter schieben Eisenbahnwaggons per Hand bis zum nächsten Bauabschnitt und sie stehen beim Graben von Stangenlöchern für Telegrafenmasten tief im kalten Wasser. Auch der Brückenbau verlangt bisweilen nahezu Unmenschliches. So begeben sich Arbeiter beim Bau für die Drehbrücke in Rendsburg in einen schmalen, stickigen Schacht, der bis zum Grund der Pfeiler reicht. Dort füllen sie Erde in Eimer, die mithilfe einer elektrischen Kraftmaschine nach oben transportiert werden. In der warmen, verdichteten Luft ist der Druck auf die Ohren äußerst unangenehm - die Arbeiter fühlen sich wie in einer "Taucherglocke".
Gewohnt wird in modernen Baracken für Hunderte
In Spitzenzeiten sind bis zu 9.000 Arbeiter beim Bauprojekt vertraglich beschäftigt. Sie kommen in insgesamt zwölf Baracken entlang des Kanals unter, deren Leitung Offiziere übernehmen. 100 bis 400 Personen finden dort jeweils Platz, es gibt moderne Großküchen mit Dampfkesseln, Speisesäle, Schlafräume mit abschließbaren Spinden und sanitäre Anlagen. Sonntags finden Gottesdienste statt. Für die damalige Zeit sind das sehr gute Verhältnisse.
Milchkaffee und Schwarzbrot mit Butter zum Frühstück und Mittagessen aus 160 Gramm Speck und Fleisch gelten als reich bemessen. Die Portionen orientieren sich an den Mengen, die deutsche Soldaten im Feld bekommen. Außerdem erhalten die Arbeiter Lohn: für zwölf Stunden im Schichtdienst zwischen 2,50 und 3,30 Mark. Der Sonntag soll, wenn möglich, ein freier Tag bleiben, Nachtarbeit bedarf einer besonderen Genehmigung. Die gesundheitliche Betreuung übernimmt ein Marinearzt, der auch die Hygienevorschriften überwacht - und so den Ausbruch der Cholera, wie 1892 in Hamburg, verhindert.
Kosten und Bauzeit für Nord-Ostsee-Kanal belasten Arbeitsatmosphäre
Doch der Kostendruck für Oberbaurat Otto Baensch ist gewaltig und der Reichstag in Berlin schaut ihm genau auf die Finger. Ein Verzug bei der veranschlagten achtjährigen Bauzeit und eine Steigerung der immensen Kosten in Höhe von 156 Millionen Goldmark darf nicht sein. Bei den Ingenieuren vermag der Bauträger nicht zu sparen, stattdessen gibt die Leitung den Druck an die Arbeiter weiter. Doch die wollen für weniger Geld nicht noch mehr schuften, sie setzen sich zur Wehr und drohen mit Streik: " … der Kanal steht still, wenn unser starker Arm es will." Es sind bei Unternehmern nicht gern gehörte Zeilen aus einem sozialdemokratischen Lied.
Jahrhundertbau Nord-Ostsee-Kanal
Bismarck regiert mit "Zuckerbrot und Peitsche"
Die fortschreitende Industrialisierung bringt ein Heer an Arbeitern hervor - und das birgt politische Sprengkraft in sich. Zwar dürfen die Beschäftigten weder anarchistisch sein noch der Sozialdemokratischen oder Kommunistischen Partei angehören, trotzdem sind die Ambitionen in Teilen der Arbeiterschaft groß, sich zu organisieren. Eine heikle Situation, auf die Reichskanzler Otto von Bismarck als Befürworter des Kanalbaus reagieren muss. Aus Angst vor zu viel Zweifel an der Monarchie und dem Erstarken der Sozialdemokratischen Partei hatte er 1878 bereits das Sozialistengesetz erlassen. In den 1880er-Jahren reformiert er nun die Sozialgesetze und führt sukzessive Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung ein. Seine Art zu regieren geht als Politik mit Zuckerbrot und Peitsche in die Geschichte ein.
Arbeitsunfälle überschatten das Leben auf der Baustelle
Arbeitssicherheit hingegen ist damals noch kein großes Thema, und so hat der Mammutbau Nord-Ostsee-Kanal auch seine Schattenseiten: Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen. Es gibt Verletzte bei Sprengungen, aber auch durch Bagger oder Granitblöcke, die im matschigen Gelände abrutschen. In der damaligen "Kanal-Zeitung", einem Blatt für Politik, Lokales und Unterhaltung mit Sitz in Brunsbüttel, lesen sich die Berichte darüber teils wie Horror-Meldungen: "Der Verunglückte, dem sämtliche Gliedmaßen zerschmettert wurden, soll sofort eine Leiche gewesen sein" oder "Bei den Kanalarbeiten bei Grünthal ist […] ein Arbeiter durch einen Arbeitszug überfahren und getötet worden".
Arbeiter werden von Steinen erschlagen, von Baggern zerquetscht, von Loren überrollt oder ertrinken im Kanal. Insgesamt kommt es zu rund 6.000 Arbeitsunfällen, 90 Menschen sterben. Und auch Probleme der zwischenmenschlichen Art trüben den Arbeitsalltag - etwa Schlägereien, häufig nach zu viel Alkoholkonsum. Auch wenn die Obrigkeit die Arbeiter mit hohen Preisen für Branntwein von 80 Pfennig - Bier kostet gerade mal acht Pfennig - vom Trinken abhalten will, bleiben Besäufnisse nicht aus. In letzter Konsequenz droht rauflustigen und trinkauffälligen Arbeitern der Rauswurf.
Statik-Kenntnisse der Italiener helfen dem Kanal-Projekt
Durch unvorhersehbare Vorfälle in dem oft unwegsamen Gelände, wie das Abrutschen von Uferböschungen, kommen Zweifel am Bau - selbst bei Oberbaurat Baensch - auf, doch die währen nur kurz. So verhelfen vor allem die statischen Kenntnisse der Italiener vom Tunnelbau dem Kanal-Projekt zum Erfolg: Um beim Bau der Hochbrücken in Levensau und Grünental die Erddämme zu sichern, werden den Fundamenten und Widerlagerwänden, die als Träger des Brückenüberbaus dienen, Spund- oder Auflagerwände vorgesetzt. Sie sollen die Konstruktion stabilisieren. Insgesamt kommen die Erdarbeiter - ausgestattet mit Schaufeln und Spitzhacke - gut voran, unterstützt von Maschinisten, Heizern und Schiffern. Nicht zuletzt ist es nicht nur den Ingenieuren, sondern auch den vielen Arbeitern zu verdanken, dass sowohl Bauzeit als auch die veranschlagten Kosten von 156 Millionen Goldmark tatsächlich eingehalten werden. Gerade mit Blick auf heutige Großprojekte eine nicht gering zu schätzende Leistung.