Acht Menschen sterben 1952 bei Zugunglück in Hamburg
Bei einem Zugunglück in Hamburg kommen am 18. September 1952 acht Menschen ums Leben, 60 weitere werden zum Teil schwer verletzt. Ursache des Unglücks: eine gebrochene Schiene, die bei Kontrollen nicht aufgefallen war.
Hamburg hat rund 2.500 Brücken. Einige davon sind weit über die Stadtgrenzen bekannt, viele vorrangig den Einheimischen geläufig und andere nicht mal denen. Die Wallstraßenbrücke liegt in der Nähe des S- und U-Bahnhofs Berliner Tor. Über sie läuft heute ein Großteil des Straßenverkehrs - die Wallstraße ist an dieser Stelle Teil der vielbefahrenen Bundesstraße 75. Am 18. September 1952 gegen 8 Uhr wird diese Brücke zum Schauplatz eines tragischen Unglücks: Ein Wagen des Eilzugs 902 Lübeck-Hamburg entgleist und wird von den nachfolgenden Waggons gegen einen Brückenpfeiler gedrückt und regelrecht um ihn herumgebogen.
"Plötzlich lag ich eingekeilt zwischen Holz und Eisen. Eine eiserne Klammer hielt mich fest, ich konnte mich nicht mehr rühren." Überlebender Hans Witten, Lübeck, im "Hamburger Abendblatt" vom 19.09.1952
Der Zug ist stark zertrümmert. Die herbeigeeilten Hilfskräfte müssen "in sehr schwerer Arbeit" Schneid- und Brechwerkzeuge einsetzen, um zu den Passagieren vorzudringen. So beschreibt es Werner Nölken von der Hamburger Feuerwehr im Gespräch mit dem NDR und zitiert dabei aus der Chronik von damals. Einige Passagiere können aber selbst aus dem Zug gelangen:
"Als der Wagen am Pfeiler zerschellte, wurde ich in die Fensternähe geworfen. Das war meine Rettung. Ich konnte mich selbst befreien und durchs Fenster ins Freie springen." Überlebender H. Möller im "Hamburger Abendblatt" vom 19.09.1952
Weiteres Unglück gerade noch verhindert
Wie später bekannt wird, kann der Zugführer* des verunglückten Eilzuges dazu beitragen, dass es zu keiner weiteren Kollision kommt: Geistesgegenwärtig läuft er sofort nach der Entgleisung einem vom Berliner Tor kommenden S-Bahn-Zug entgegen und gibt Haltzeichen. Der aufmerksame S-Bahn-Fahrer entdeckt das Hindernis unter der Brücke und kann seinen Zug noch rechtzeitig zum Stehen bringen.
Mindestens 100 Retter sind am Unfallort im Einsatz
Rund eineinhalb Stunden dauern die Rettungsmaßnahmen. Zum Einsatz kommen laut Nölken drei Löschzüge, ein Werkstattwagen, acht Unfall- und elf Krankenwagen. Ungefähr 100 Einsatzkräfte befinden sich laut Nölken am Unfallort, um Verletzte zu befreien und versorgen - und Tote zu bergen.
Die Besatzungen zweier Hilfszüge der Bundesbahn sorgen dafür, dass die Trümmer unter der Wallstraßenbrücke schnell beseitigt werden. Ebenfalls nach eineinhalb Stunden kann die S-Bahn ihren Betrieb wieder aufnehmen. Noch in der Nacht ist auch die Fernstrecke nach Lübeck wieder frei.
Bundesbahn muss Angehörige entschädigen
Der Sachschaden beträgt etwa 50.000 D-Mark, wie aus der Senatsdrucksache Nr. 475 vom 30. April 1953 hervorgeht, die im Hamburger Staatsarchiv liegt. Doch die Dimension des Unglücks ist weitaus größer: Acht Menschen sind ums Leben gekommen, zwölf schwer und etwa 50 weitere leicht verletzt worden. Für die Angehörigen der Opfer kaum ein Trost, dennoch: "Nach dem Haftpflichtgesetz hat die Bundesbahn an die Angehörigen der Toten und für die Verunglückten Entschädigungen zu zahlen, deren Höhe in jedem einzelnen Fall verschieden ist", wie das "Hamburger Abendblatt" damals berichtet. Die individuelle Entschädigung richtet sich danach, wie groß die Folgen beziehungsweise wie schwer die Verletzungen sind. Auch heutzutage werden solche Kompensationszahlungen auf Grundlage des Haftpflichtgesetzes geregelt.
Der Zug war nicht zu schnell
Der Lokführer* des Unglücks-Eilzuges kann sich die Ursache des Unfalls damals nicht erklären. Er sei etwa 55 Kilometer pro Stunde gefahren, gibt er zu Protokoll. Dieses Tempo ist dort zulässig. An der Geschwindigkeit kann es also nicht gelegen haben, dass der Waggon aus den Schienen gesprungen ist.
Gebrochene Schiene wird als Unfallursache ausgemacht
Experten finden die Ursache schnell heraus: Sie entdecken einen Schienenbruch etwa 150 Meter vor der Wallstraßenbrücke. Seit 1934 sind die Schienen auf der Strecke in Betrieb und werden - wie alle Hauptstrecken der Bundesbahn - regelmäßig kontrolliert. Auch Messwagen fahren die Gleise ständig ab, können Schienebrüche damals aber nicht erkennen. Die letzte planmäßige "Durcharbeitung der Schiene", bei der das Gleis nivelliert, gehoben, gerichtet und der Schotter verdichtet wird, erfolgt im Januar 1952, wie aus der Senatsdrucksache zu erfahren ist. Die letzte Begehung des Gleises findet genau einen Tag vor dem Unglück statt. Doch der Bruch wird bei den Routineuntersuchungen nicht sichtbar.
Wie das "Hamburger Abendblatt" einen Tag nach dem Unglück unter Berufung auf den Oberbaureferenten der Bundesbahnhauptverwaltung in Offenbach, Gerhard Schramm, berichtet, kann dem zuständigen Streckengeher des Unglücksgleises kein Vorwurf gemacht werden, weil "der Schienenriß von oben nicht erkennbar war und unter der Verbindungslasche lag". Das sieht auch der Bauingenieur Erwin Massute von der Technischen Hochschule Hannover so. Er fertigt später das Gutachten zu dem Unglück an und kommt zu dem Schluss: "Schienenbrüche können nicht vermieden werden."
"Verkettung unglücklicher Umstände" führen zu Katastrophe
Schramm spricht von einer "Verkettung unglücklicher Umstände, wie ich sie in in meiner 25-jährigen Praxis noch nicht angetroffen habe". Es sei sehr ungewöhnlich, dass ein Gleisbruch an der Innenschiene in einer leichten Kurve zu einer Entgleisung führt. "Das herausgebrochene Stück muß sich hochgestellt und damit zur Entgleisung des ersten Wagens geführt haben", ist sich der Ingenieur sicher. Laut Senatsdrucksache handelt es sich um ein 27,5 Zentimeter langes Schienenstück, das sich gelöst hat. Schramm sagt, ihm seien zuvor nur drei Schienenbrüche bekannt geworden, die zu einer Zugentgleisung geführt hätten. "Was in Tausenden Fällen wirkungslos bleibt, hat sich in Hamburg zu einer Katastrophe ausgewirkt."
Große Anteilnahme in Hamburg und Schleswig-Holstein
In Gedenken an die Opfer wehen am Tag nach dem Unglück die Flaggen an öffentlichen Gebäuden in Hamburg, Lübeck sowie in Bad Oldesloe und Reinfeld, die ebenfalls Stationen der Bahnstrecke sind, auf halbmast. Bürgermeister Paul Nevermann (SPD) besucht die Verletzten im Krankenhaus, auch viele Hamburger Bürger überbringen den Verunglückten Blumen und Geschenke. Die Anteilnahme in der Bevölkerung ist groß. Unter anderem der portugiesische Konsul Mario Duarte und der Konsul von Uruguay, Mario F. Giucci, übermitteln ihre Beileidsgrüße. Auch Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) schickt ein Schreiben, in dem er seine Anteilnahme ausdrückt.
Am 22. September 1952 findet in Lübeck eine offizielle Trauerfeier statt, bei der Angehörige, Freunde und Bekannte Abschied nehmen und der Toten gedenken. Im Gedächtnis bleibt auch, dass ein 27,5 Zentimeter langes Stück Metall eine solche Katastrophe ausgelöst hat.
*Hinweis: Die Quellenlage ist hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem Lok- und dem Zugführer nicht ganz eindeutig. Experten nehmen an, dass neben dem Lokführer, der den Zug gefahren hat, auch ein Zugführer anwesend war, der für die Sicherheit zuständig war. Es kommt aber auch vor, dass ein Lokführer für alle Aufgaben zuständig ist.