Abschuss bei Boizenburg löst diplomatische Krise aus
"Hier schlug die Kanzel ein, die Büsche und Bäume brannten." Alfred Tschaepe zeigt auf eine baumlose Lücke in dem mit Gestrüpp überwucherten Knick am Feldrand. An die dramatischen Szenen, die sich hier - auf einem Acker zwischen Boizenburg und Lauenburg nahe der Ortschaft Vier - im März 1953 abspielten, erinnert heute sonst nichts mehr. Obwohl der Vorfall in unmittelbarer Nähe der früheren Sektorengrenze seinerzeit eine schwere diplomatische Krise auslöste. "Unser arbeitssames, romantisches Städtchen für Stunden am Puls der Welt!", schrieb die "Lauenburgische Landeszeitung" ganz aufgeregt am nächsten Tag. Doch was war geschehen?
Trümmer regnen vom Himmel
Genau geklärt ist es bis heute nicht. Fest steht: Über Boizenburg nehmen zwei sowjetische MiG-15-Jagdflugzeuge ein Flugzeug der Royal Air Force (RAF) vom Typ Avro Lincoln unter Feuer. Die viermotorige Propellermaschine wird getroffen und gerät ins Trudeln. Vom lauten Donnern aufgeschreckt werden einige einheimische Bauern Zeugen des Vorfalls. Tschaepe ist einer von ihnen. Der damals 22-Jährige bespannt gerade die Pferde auf einem nahe gelegenen Gehöft.
"So schnell konnte ich mich gar nicht umdrehen und gucken, wie der unten war. Ich habe nur noch den Rauchschleier gesehen", erinnert sich der heute 82-Jährige. Fallschirme schweben zu Boden, der Rumpf der Maschine zerbricht. Trümmer regnen verstreut herab. Das Leitwerk stürzt in die Elbe, eine brennende Tragfläche schlägt 100 Meter neben einem Grenzposten auf. Papiere und Fallschirmteile werden später sogar bei Bleckede gefunden. So steht es in den Berichten der Lokalpresse.
Tod auf dem Acker
Die Kanzel und der Hauptteil des Rumpfes schlagen auf dem Acker bei Vier auf. "Überall lagen Stücken 'rum", erinnert sich Tschaepe. Alle sieben Besatzungsmitglieder kommen beim Absturz ums Leben. Einige sterben - entsetzlich entstellt - im Wrack. "Ein toter Pilot wurde am Waldrand gefunden", sagt Tschaepe. Drei weitere Crewmitglieder können sich zunächst mit Fallschirmen aus der brennenden Maschine retten, sterben aber später in Krankenhäusern. Die Absturzstelle wird von herbeigeeilten sowjetischen Einheiten abgesperrt. "Alles wurde sofort weggeräumt", weiß Tschaepe noch, "am nächsten Tag war alles weg."
Churchill tobt im Unterhaus
Der Einschlag auf dem Acker bei Boizenburg löst ein politisches Beben aus, dessen Druckwellen bis nach Moskau und London reichen. Der britische Premier Winston Churchill tobt im Unterhaus vor Wut über den mutwilligen Angriff ("want-on attack") des einstigen Verbündeten im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Eine Protestnote wird übermittelt. Der Kreml schiebt den schwarzen Peter zurück. Die britische Maschine sei zuvor weit in den Luftraum der DDR eingedrungen und habe das Feuer eröffnet. Das im aufziehenden Kalten Krieg eh schon angespannte politische Klima zwischen Ost und West wird noch eisiger.
Übungs-oder Spionageflug?
Die Briten behaupten, die Maschine habe sich auf einem Übungsflug im Luftkorridor zwischen Hamburg und Berlin befunden. Von 1945 bis 1990 gab es drei solcher jeweils rund 30 Kilometer breiter Streifen, die den Westalliierten Flüge nach West-Berlin ermöglichten. Laut der sowjetischen Version war die bewaffnete Maschine weit ins Inland der sowjetisch besetzten Zone geflogen, um Spionage zu betreiben.
Das am besten fotografierte Gebiet der Welt
"Spionageflüge waren - insbesondere in den 1950er-Jahren - ein ganz wesentliches Mittel zur Informationsbeschaffung über die militärische Stärke des Gegners. Bis 1990 dürfte die Zahl von 25.000 Spionageflügen über der DDR sicher nicht zu hoch gegriffen sein", sagt Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut Moskau.
"Die DDR war in jener Zeit das wohl am besten fotografierte Gebiet der Welt", so der Historiker weiter. "Die einen waren auf der Suche nach Informationen, die anderen wollten diese natürlich nicht preisgeben." Dementsprechend scharf patrouillierten die Sowjets entlang der Transitstrecken, die auch für Spionageflüge genutzt wurden.
Ein offener Schlagbaum am Eisernen Vorhang
Gleichwohl gilt es heute als sicher, dass sich Flug RF 531 tatsächlich, wie von den Briten behauptet, auf einem Übungsflug befand. "Es gibt keine Hinweise darauf, dass es sich um einen Spionageflug handelte. Die Maschine ist vermutlich durch den Wind vom Kurs abgetrieben worden", sagt Uhl. So schnell, wie die Aufregung um den Zwischenfall losbrach, legte sie sich auch wieder. "Vermutlich, weil solche Zwischenfälle in jener Zeit gewissermaßen an der Tagesordnung waren", erklärt Uhl. So wurde 1952 die Außenhülle einer über Sachsen-Anhalt vom Kurs abgekommenen Air-France-Passagiermaschine mit Dutzenden Berlin-Touristen von den Bordkanonen zweier MiGs durchlöchert. Die ahnungslosen Reisenden kommen mit dem Schrecken davon.
Einige Tage nach dem Vorfall sandte Moskau ein Beileidsbekunden. Ein Foto - eines der wenigen Bilddokumente von dem Zwischenfall - zeigt, wie sich der Schlagbaum an der Grenze noch einmal öffnet, als die Sowjets die sterblichen Überreste der Soldaten und Wrackteile der Maschine auf einem Tieflader den Briten übergeben. Über den RAF-Stützpunkt in Celle wurden die Toten zurück in ihre Heimat gebracht.
Letzte Reise nach England
Die britischen Soldaten fanden schließlich auf dem Friedhof der St. Catherine's Church in Leconfield in der Grafschaft Yorkshire ihre letzte Ruhestätte - unweit des Flugplatzes, von dem aus sie zu ihrem letzten Einsatz gestartet waren. In einer langen Reihe schlichter weißer Grabsteine stehen auf einigen dieser Steine auch ihre Namen.
Gedenksteine oder Ähnliches sucht man in der Region um Boizenburg dagegen vergeblich. Auch nicht im Elbbergmuseum, das nur ein paar Hundert Meter von der Absturzstelle entfernt liegt. Dort stehen um einen früheren Beobachtungsturm der DDR-Grenztruppen, der heute "Checkpoint Harry" heißt und einen Imbiss beherbergt, einige Bildtafeln. Sie dokumentieren Entstehung und Abriss der Grenzanlagen, Hinweise auf den tragischen Zwischenfall von 1953 finden sich dort nicht.
Nur wenig ist überliefert
Dass heutzutage nur noch so wenig darüber bekannt ist, liegt nach Meinung der Lauenburger Stadtarchivarin Anke Mührenberg zum Einen daran, dass damals nur wenige Informationen nach außen drangen. "Außerdem waren die Menschen hier acht Jahre nach Kriegsende noch mehr mit alltäglichen Dingen beschäftigt."
Auch Alfred Tschaepe, einer der letzten verbliebenen Augenzeugen des Vorfalls, hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, im Grenzgebiet zu leben. "Ich habe immer dicht an der Grenze gewohnt", sagt der gebürtige Schlesier, der 1944 das erste Mal seine Heimat verlassen musste. Anfang der 1970er-Jahre wurde er erneut umgesiedelt - nach Nostorf, wo er heute noch wohnt. Damals baute die DDR gerade ihre Grenzanlagen aus, Tschaepes Haus lag mitten im Sperrgebiet - und musste weichen. Aber das ist eine andere Geschichte.