Gerda Borck: "Wie weiterleben nach solchen Schandtaten?"
Gerda Borck, Jahrgang 1920, überlebt Luftangriffe auf Dresden und ihre Heimatstadt Hagen. Nach dem Krieg zieht ihre Familie nach Bremen. Als sie sich mit dem Holocaust und Auschwitz auseinandersetzt, bricht für sie eine Welt zusammen. Ein Jahrhundertleben.
Schon als Mädchen weiß Gerda Borck, was sie will: Kindergärtnerin werden. Ihre Eltern stammen aus dem Bildungsbürgertum, ihr Vater möchte unbedingt, dass sie wie er Lehramt studiert. Doch Gerda Borck bleibt stur. Selbst der Zweite Weltkrieg kann ihre Ambitionen nicht ausbremsen, auch wenn sie durch Bombenangriffe und Flucht immer wieder Rückschläge erleidet. Als sie nach Kriegsende von dem Ausmaß der NS-Verbrechen im Dritten Reich erfährt, quälen sie tiefe Schuldgefühle. Gerda Borck arbeitet die "Schandtaten" für sich auf, findet Kompensation und persönliche Erfüllung in ihrer Berufung: Sie widmet ihr Leben Kindern, die es schwer haben - mit "Zuwendung, Liebe und Vertrauen", erzählt die 102-Jährige in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben".
Gerda und Bruder Peter wachsen wie Zwillinge auf
Gerda Borck kommt am 18. August 1920 im nordrhein-westfälischen Hagen zur Welt. Beide Eltern sind Studienräte, die Mutter bleibt nach der Geburt der Kinder zuhause. Gerda und ihr Bruder Peter sind nur 13 Monate auseinander, wachsen wie Zwillinge auf. "Wir haben eine Einheit gebildet", erinnert sich Gerda Borck liebevoll an die Anfänge ihrer Kindheit. Beide haben etwas zum Knuddeln, die kleine Gerda schleppt Puppe Dodo überall mit hin, der Bruder besitzt einen Affen als Kuscheltier zum Einschlafen. Im Elternhaus wird viel diskutiert und die Erziehung des Nachwuchses pädagogisch aufgearbeitet. Nur ein einziges Mal habe ihr Bruder Schläge mit dem Stock bekommen, so ihre Erinnerung. Gerda ist ein kleines, zartes und schüchternes Mädchen. Schon als Kind passt sie gerne auf die Nachbarskinder auf - und sie weiß früh, dass sie Kindergärtnerin werden möchte.
Hitlers Machtübernahme - Eltern wählen die NSDAP
Als Hitler vor der Machtübernahme steht, ist seine Partei auch Gesprächsstoff in der Familie Borck. Weil die Arbeitslosigkeit im Arbeiterviertel Haspe, einem ärmlichen Stadtteil Hagens, so hoch ist, sei die NSDAP die einzige Partei, die sie wählen könne, sagt Gerdas Mutter damals. Auch der Vater sympathisiert mit den Rechtsextremen - und so wählen beide Elternteile 1933 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Gerda ist Mitglied beim Bund Deutscher Mädel, mit der Jugendgemeinschaft unternimmt sie Ausfahrten und Wanderungen. Sie könne sich nicht erinnern, damals in eine nationalsozialistische Ausrichtung gedrillt worden zu sein, beschreibt Gerda Borck ihre Zeit in dem weiblichen Ableger der Hitlerjugend. Dennoch lassen die Auswirkungen des NS-Regimes sie nicht unberührt: So bekommt sie etwa mit, dass Kranke getötet werden. Außerdem sei die Tochter des Bäckers gestorben, obwohl sie gesund gewesen sei - ein Umstand, der bedrückende Gefühle hinterlassen habe. Konkreter wird Gerda Borck bei diesen Beschreibungen nicht.
Zum 18. Geburtstag: Weg mit den alten Zöpfen
Während der Schulzeit hegt sie weiter den Wunsch, mit Kindern zu arbeiten. Aber ihr Vater ist dagegen. Er möchte, dass die Tochter in seine Lehrer-Fußstapfen tritt. Gerda Borck will das auf keinen Fall, auch weil sie damals glaubt, keine Disziplin in eine Klasse bekommen zu können. Sie möchte sich vor allem um kleinere Kinder kümmern. Zum 18. Geburtstag hat sie nur zwei Wünsche: die Zöpfe abschneiden und Kindergärtnerin werden. Schließlich setzt sie sich durch und ihr Vater willigt endlich ein. Und so verlässt Gerda Borck die Mädchenoberschule nach der 11. Klasse und besucht ein Kindergärtnerinnen-Seminar in Dortmund.
Zweiter Weltkrieg - Ausbildung zur Kindergärtnerin beginnt
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs durchkreuzt die Berufspläne von Gerda Borck zunächst. Die 19-Jährige wird für ein Jahr zum Arbeitsdienst eingezogen und betreut eine sogenannte NSV-Familie. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt unterstützt damals bedürftige Eltern und ihre Kinder. Gerda Borck hilft bei der Betreuung einer Bauernfamilie mit fünf Kindern im Alter von ein bis acht Jahren. Immer wieder wird ihr bewusst: "Das ist dein Beruf." 1942 beginnt sie schließlich mit ihrer Ausbildung in einem Kindergarten. Doch als die Einrichtung nach acht Wochen abbrennt, ist schon wieder Schluss. Ihre Großmutter holt sie nach Stettin, dort kann Gerda Borck wieder in einem Kindergarten arbeiten. Doch der Krieg macht auch diesmal wieder alles zunichte, nach einem halben Jahr brennt auch diese Einrichtung nach einem Bombenangriff ab.
"Die Hitze und der Sog in den Straßen sind so groß gewesen"
Gerdas Bruder kämpft in dieser Zeit als Soldat an der Ostfront. Dort wird der Panzerpionier schwer verletzt und in ein Lazarett nach Dresden verlegt. Die Schwester will unbedingt zu ihrem geliebten Bruder und bewirbt sich in die damals siebtgrößte Stadt Deutschlands. Dort betreut sie Kinder im Alter von elf bis 15. Noch ist Dresden eine friedliche Stadt, Gerda Borck ist in ihrem Element und kümmert sich um ihre Zöglinge.
Doch dann rückt die Rote Armee im Osten weiter vor - und Gerda Borck plant ihre Flucht. Als die Alliierten im Februar 1945 die Stadt aus der Luft angreifen, sitzt sie bereits auf gepackten Koffern. Die Hitze und der Sog in den Straßen seien so groß gewesen, da habe der Koffer zurückbleiben müssen, beschreibt sie die dramatischen Szenen rückblickend. Im Zentrum Dresdens sieht sie die Toten liegen. "Das konnte ich nicht mehr ertragen, es war ein fürchterliches Erlebnis", beschreibt sie das Grauen von damals.
"Ruhrkessel": Flucht nach Bremen kurz vor Kriegesende
Gerda Borck will nur noch eins: nach Hause. Sie verlässt Dresden und kehrt nach Hagen zurück. An Arbeit ist nach den Erlebnissen nicht zu denken. Nur einen Monat später wird auch Hagen erneut von den Engländern bombardiert, Gerda Borck verliert abermals ihr Zuhause. Sie kommt bei Freunden im Keller unter. Mit einem Mal steht ihr Bruder vor ihr, er ist mittlerweile Offizier. "Der Krieg ist verloren, ihr müsst hier raus", drängt er die Schwester. Das Ruhrgebiet ist im April 1945 bereits von den Alliierten eingekesselt. Bruder Peter setzt Gerda schließlich in einen Zug nach Bremen.
Mit dem Kriegsende wird die Stadt an der Weser die neue Heimat von Gerda Borck - und ihrer Familie: Sie trifft dort auf ihre Eltern und später auch den Bruder, als er aus französischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Ihre Mutter beginnt wieder als Studienrätin zu arbeiten.
Nachkriegsjahre: Wie weiterleben mit den Schuldgefühlen?
Als Gerda Borck beginnt, sich mit den Verbrechen im Dritten Reich auseinanderzusetzen, bricht eine Welt für sie zusammen. "Das Wort KZ gab es doch nicht, die kamen ins Arbeitslager", habe es immer geheißen. Den Holocaust habe sie all die Jahre zuvor nicht für möglich gehalten. "Man verstand nicht, dass Auschwitz eine Tötung von Menschen war." Und sagt über ihre damalige Verzweiflung: "Wie sollte das Leben nach solchen Schandtaten weitergehen?"
Denn auch, wenn man die Taten nicht selbst begangen habe, so fühle man sich doch mitschuldig, beschreibt Gerda Borck ihr damaliges Innenleben. Später besucht sie sämtliche Konzentrationslager in Polen - auch Auschwitz - und ist vom dort Gesehenen zutiefst erschüttert.
"Es gab nichts, weder Essen noch Kleidung"
Gerda Borck versucht, ihre Schuldgefühle in der eigenen Arbeit zu kompensieren. Aus ihrer Sicht müssen Kinder gefördert werden - und will ihnen den "Weg ins normale, nicht ins abnormale Leben zeigen." So ihr Berufsthos, den sie damals in einem Heim im ostfriesischen Großefehn verwirklichen will. Dorthin kommen verwahrloste Kinder, die zum Beispiel für ihre Mütter Diebstähle begangen haben. "Was soll aus solchen Kindern werden, wenn die Eltern keine Arbeit haben?", fragt sich Borck.
Die Zeit des Wiederaufbaus beschreibt sie als Jahre der Entbehrungen, als "schwer für alle. Es gab nichts, weder Essen noch Kleidung." Auch sie selbst lebt in einfachsten Verhältnissen, einem Zimmer mit Bett und einem mit Torf beheizten Ofen neben dem Schlafsaal der Kinder. Privatleben: Fehlanzeige.
"Zuwendung, Liebe, Vertrauen" - Hilfe für Problemkinder
Doch für die psychisch belasteten Kinder sei die Zeit besonders hart gewesen. "Die Jungs schliefen auf Strohsäcken, nässten sich ein." Gerda Borck gibt ihnen "Zuwendung, Liebe und Vertrauen." Und was sie den Kindern gibt, trägt Früchte: Nach acht Wochen habe sie keine Bettnässer mehr gehabt. Diese Kinder seien ihr Leben gewesen, erzählt sie mit leuchtenden Augen: "Es war die schönste Berufszeit, die ich hatte."
Die Arbeit "war mir wichtiger" als eine Beziehung
Kurz scheint es so, als ob Gerda Borck auch privat ihr Glück findet. Sie freundet sich mit einem Kollegen an, er ist Diakon und arbeitet als Erzieher. Das Paar verbringt die Sonntage zusammen - offenbar mit viel gegenseitiger Sympathie. Doch der Adoptivvater, ein Pastor, missbilligt die Beziehung seines Sohnes. Er habe sie boykottiert, erinnert sich Gerda Borck wehmütig. "Da hab ich gesagt, ich kann das nicht." Sie pflegen noch einige Zeit Briefkontakt. Dann widmet sich die engagierte Erzieherin sich wieder ganz ihrer Arbeit: "Die war mir wichtiger." 1957 wechselt sie in den öffentlichen Dienst der Stadt Bremen und betreut Vorschulkinder mit Förderbedarf. 23 Jahre bleibt sie dort tätig, bis sie mit 60 in Pension geht.
Unruhestand - Hilfe bei der Integration türkischer Kinder
Doch: "Ohne Arbeit konnte ich nicht." Auch nach der Pensionierung sucht sich Gerda Borck neue Aufgaben. Sie hilft den Töchtern ihres türkischen Schneiders bei den Hausaufgaben, dann auch Kindern anderer türkischer Familien. Viele von ihnen schaffen später ihr Abitur. Noch heute hält Gerda Borck zu vielen der von ihr geförderten Kinder Kontakt. Auch anderweitig bleibt sie lange umtriebig, kümmert sich etwa um die Älteren in ihrer Kirchengemeinde - bis sie 95 Jahre alt ist. Dann ist sie selbst nur noch Besucherin.
Gleichstellung durch Gendern? "Das geschieht im Leben"
Trotz ihrer 102 Jahre macht Gerda Borck noch fast alles selbst - ob Haushalt, Garten oder Gästebewirtung. Selbstständigkeit ist ihr sehr wichtig. Gerne liest sie Zeitung - bis zu drei Stunden täglich. Sie sei politisch interessiert - von Klimaschutz bis Gleichstellung - und etwa dagegen, dass noch mehr Autos verkauft werden: "Wir können Räder verkaufen", lautet ihr Appell zum Schutz der Umwelt. Mit einem Thema dieser Zeit kann sie sich allerdings nicht anfreunden: der gendergerechten Sprache: "Es darf jeder sein, wie er will. Aber das Gendern finde ich unmöglich", sagt sie leidenschaftlich. Das sei eine Verhunzung der Sprache - und keine Gleichstellung. "Die geschieht im Leben und nicht in der Sprache", argumentiert sie.
Nächtes Ziel: "Jetzt will ich auch 103 werden!"
Wichtig sind Gerda Borck auch ihre Mobilität und soziale Kontakte: Einmal in der Woche fährt sie mit dem Bus und geht zum Einkaufen auf den Markt. Dort hält sie den ein oder anderen Schnack. Und hält Kontakt zur Familie. Auch wenn sie keine eignen Kinder hat, ist sie umgeben von Nichten, Neffen und deren Kindern und Kindeskindern, die sie regelmäßig besuchen. Für die Kommunikation mit allen nutzt sie ein Tablet.
Ihre Großfamilie gebe ihr Geborgenheit und halte sie jung. "Ich führe ein doch ganz positives Leben, wenn ich mir das so überlege", freut sie sich. Angst vor dem Tod habe sie nicht, das Leben müsse ja mal zu Ende sein. Aber noch nicht jetzt. Als Gerda Borck mit ihren Verwandten ihren 102. Geburtstag feiert, steht für sie fest: "Jetzt will ich auch 103 werden!"