Ein neuer Blick auf Inge Meysel
Sie nimmt sich zeitlebens nicht zurück - und sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund: Inge Meysel. Ausgerechnet eine, die so gar nicht ins Bild der braven Hausfrau passen will, soll die "Mutter der Nation" sein? Wer wissen will, warum sie so geworden ist, der muss zurückschauen. Auch wenn wir sie nur mit Falten kennen - es gab tatsächlich eine Zeit ohne, eine Zeit, über die Meysel nicht gerne sprach.
NS-Regime erteilt Schauspielverbot
Sie wächst in Berlin als Kind einer dänischen Mutter und eines jüdischen Vaters auf. Mit 17 schmeißt sie die Schule, denn sie will ans Theater. Dort trifft sie ihre erste große Liebe: Helmut Rudolf. Es läuft gut, privat wie beruflich - bis zur Machtergreifung der Nazis. Sie wird zu einem Gespräch beim Direktor des Leipziger Schauspielhauses geladen. "Ein paar Monate später sagte mir Otto Werther, dass drei Kollegen, ein Dramaturg, zwei Schauspieler und eine Kollegin sich geweigert hätten, mit mir zu spielen, weil ich Halbjüdin wäre", erinnert sie sich. Für die junge Schauspielerin ist dies ein Schock. Sie ist sogenannter "Mischling ersten Grades" und muss gehen. Auch in anderen Theatern bekommt sie Hausverbot.
Mitten im Krieg wird sie schwanger. Als erneut ein Bombenangriff geflogen wird, erschrickt Inge so sehr, dass die Wehen einsetzen - drei Monate zu früh. "Dieses Kind hat gelebt. Es war eine Frühgeburt. Es hat sich verschluckt beim Einführen der Sonde mit einem Tropfen und ist dann gestorben."
"Die Mutter der Nation" als Rolle
Nach dem Krieg brennt sie darauf, die verlorene Schauspielzeit nachzuholen - zunächst am Thalia Theater in Hamburg. Niemand soll je wieder über ihr Leben bestimmen können. Doch Meysel ist jetzt mit 35 zu alt für junge Rollen. Immer häufiger spielt sie die patente Hausfrau. Aber erst durch ihre Rolle in "Das Fenster zum Flur" wird sie zur beliebten "Mutter der Nation".
Privat entspricht sie gar nicht der Vorzeigemutter. Statt Kinder und Küche gibt es Küsse für fremde Männer. Für die Fans spielt sie ihre Rolle weiter. Viele vertrauen ihr und fragen sie um Rat: Wie mit der nervigen Schwiegermutter umgehen, wie mit den Kindern oder dem Mann? Für solche Probleme hat Inge Meysel immer ein offenes Ohr. "Sie ist sehr sozial gewesen", erinnert sich ihre Schauspielkollegin Monika Peitsch. "Auch sehr sozial Kolleginnen gegenüber, denen es nicht gut ging. Die hat sie geholt und beschäftigt."
Inge Meysel, die Kämpfernatur
Auf Ungerechtigkeiten reagiert sie allergisch. Viele Fans sind erstaunt, als Meysel ausgerechnet mit Alice Schwarzer gegen sexistische Titelblätter kämpft. Trotzdem halten sie zu "ihrer" Mutter. "Ein Fernsehvolk, das mich zur Mutter der Nation erklärt, das muss eigentlich ein sehr gutes Volk sein", sagt sie 1981. "Denn sehen Sie mal: Ich bin keine Schönheit, ich bin keine Persönlichkeit und keine Frau, die anderen nach dem Mund redet. Sondern ich bin eine aggressive Person. Ich habe daher viele Feinde, und wenn die Leute das gut finden, dann sind sie doch sehr aufgeweckt. Ich kann ihnen nur zu mir gratulieren."
Meysel liebt die Provokation. Spaßeshalber outet sie sich als lesbisch, schockiert mit einem offenen Bekenntnis zur Sterbehilfe. In einer Talkshow findet sie, dass die junge PDS-Abgeordnete Angela Marquardt zu hart angegangen wird. Erst solidarisiert sich Meysel mit ihr, dann bietet sie ihr spontan an, das Studium zu finanzieren. Auch das ist Inge Meysel. "Wenn man heute sagt, dass man sie liebevoll erlebt hat, dann denken die meisten Menschen: Welche Inge Meysel? Von wem redet sie da?", sagt Angela Marquardt.
Inge Meysel war eine schwierige Frau, aber eine mit Herz. In ihrer letzten Rolle im Polizeiruf ist sie bereits schwer dement. Aber bis zum Schluss ist sie eine Kämpfernatur gewesen.