Der echte "Engel von St. Pauli"
Vor genau 50 Jahren, am 21. Dezember 1964, starb Bertha Keyser. Sie hat ein halbes Jahrhundert Armen und Obdachlosen in St. Pauli und der Neustadt geholfen und wurde der "Engel von St. Pauli" genannt. Im Hamburger Michel ist die Erinnerung an sie noch immer lebendig.
Kampf gegen den Hunger
"Sie war eine kleine, zähe, strenge, fromme Frau", sagt Michel-Hauptpastor Alexander Röder. Das haben ihm die älteren Gemeindemitglieder immer wieder berichtet. Ein halbes Jahrhundert hat Bertha Keyser in der Hamburger Neustadt und auf St. Pauli Armenspeisungen organisiert. "Sie hat alles zusammengebettelt und regelmäßig bis zu 650 Mahlzeiten am Tag ausgegeben", sagt Röder. "Es muss hier ein unvorstellbares Elend gegeben haben."
Der Engel hatte auch Gegner. Kommunisten wollten die Hilfe für die Armen verhindern und hofften stattdessen auf die Revolution. "Sie wollten ihre Gulaschkanone umschmeißen, schrien Parolen und versuchten, die Arbeiter davon abzuhalten, sich Nahrung zu holen", erzählt Röder. Der Hunger sei aber stärker gewesen als die Ideologie.
Von der Kammerzofe zur Missionarin
Als sie 1913 nach Hamburg kam, hatte Bertha Keyser schon ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war als Kindermädchen in England und als Kammerzofe einer Gräfin in Paris gewesen und hatte als Gefängniswärterin gearbeitet. Der raue Hamburger Kiez war ein neues Abenteuer für die Frau aus dem kleinen Ort Maroldsweisach in Unterfranken.
Finanziert hat sie ihre soziale Arbeit in Hamburg anfangs auch, indem sie die berüchtigten Kriegspredigten des damaligen Michel-Hauptpastors Hunzinger verkaufte. Ihre Frömmigkeit war einfach und rustikal, aber sie konnte zupacken. Bertha Keyser kümmerte sich auch um Prostituierte. "Sie hat immer nur die Sünde verurteilt, nie den Sünder", erzählt Röder.
Im Rollstuhl noch helfen
Weil Nachbarn sich immer wieder beschwerten, musste Bertha Keyser in Hamburg oft umziehen, um weiter für die "Sperlinge Gottes", wie sie ihre Klienten nannte, arbeiten zu können. Zum Schluss hatte sie im Bäckerbreitergang eine kleine Ladenwohnung. Noch im hohen Alter versorgte sie dort jeden Tag etwa hundert Hungrige mit Essen und Kleidung. "Sie wurde im Rollstuhl von vier Männern rausgetragen, damit sie weiter ihre Mission zu betreiben kann - bis zum letzten Atemzug", sagt Röder.
Hamburg trauerte um den Engel von St. Pauli
Bertha Keyser starb mit 96 Jahren und den Trauerzug nach Ohlsdorf begleiteten 500 Menschen. "Die Zeitungen vermeldeten, dass sowohl Herren in Zylinder und Damen in Pelzmantel als auch abgerissene Typen von St. Pauli zu dieser Trauerfeier gekommen sind und in der Trauer um sie vereint waren", erzählt Rödeder Michel-Pastor. Freunde sammelten Geld für den schlichten Grabstein mit den eingravierten Worten "Geh auch Du in den Weinberg".
Heute erinnern der Bertha-Keyser-Weg auf St. Pauli und eine Gedenktafel an ihrem letzten Wohnhaus im Bäckerbreitergang an sie. Vor allem ihr Name aber ist immer noch lebendig: Der Engel von St. Pauli. Im Musical "Heiße Ecke" im Schmidt’s Tivoli ist ihr ein Lied gewidmet. Der Engel in diesem Song ist die unerwartete gute Tat. Bertha Keyser hat dafür gelebt.