VIDEO: Merkels Vermächtnis: Wie ihre Freunde sie sehen (Panorama, 2018) (10 Min)

Angela Merkel: Von "Kohls Mädchen" zur Bundeskanzlerin

Stand: 17.07.2024 12:00 Uhr

Ein höheres Amt hätte ihr früher nicht jeder zugetraut - doch sie zog an allen vorbei und schaffte es, eine der mächtigsten Frauen der Welt zu werden. Am 17. Juli 2024 wurde die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 70 Jahre alt.

"Normalität in Perfektion" - das, so Robert Habeck in einem Gastbeitrag für das Magazin "Rolling Stone" im Juni 2024, habe Merkel in seinen Augen verkörpert. Man habe sie sich immer gut beim Kuchenbacken oder Kartoffelschälen oder beim "Tatort"-Gucken vorstellen können, schreibt der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister von den Grünen. Sie habe für Stabilität gestanden. Und für feinen Spott und schneidenden Witz. Für Leidenschaft und Pathos jedoch weniger, so Habeck.

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Angela Merkel in der Doku "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" mit Maske ©  rbb/SWR/MDR/Looksfilm/Europäische Union

"Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin" in der ARD Mediathek

Die Serie stellt die Sicht der "Generation Merkel" auf die Kanzlerschaft der ersten Frau an der Spitze Deutschlands in den Mittelpunkt. extern

"Morgen ist auch noch ein Arbeitstag"

Ob sie denn gar nicht müde sei, ist Angela Merkel einmal gefragt worden. Das war am 12. Februar 2015, einem Donnerstag. Merkel hatte gerade 17-stündige Verhandlungen über ein Friedensabkommen für die Ost-Ukraine hinter sich sowie einen Flug von Minsk nach Brüssel - gefolgt von EU-Beratungen über die Griechenland-Krise. Nein, entgegnete Merkel, die Woche sei doch noch gar nicht vorbei. "Morgen ist auch noch ein Arbeitstag."

Fleißig, normal, uneitel, manchmal dröge und immer wieder humorvoll - so behalten wohl viele Menschen Deutschlands erste Bundeskanzlerin in Erinnerung. Viele hatten ihr nicht zugetraut, überhaupt einmal in dieses Amt zu kommen, auch nicht in ihrer eigenen Partei. Die aber hat sie alle politisch überlebt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert sich am 31.08.2015 in Berlin auf einer Pressekonferenz zu aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik © picture alliance/dpa Foto: Bernd Von Jutrczenka
AUDIO: 70. Geburtstag: Ursula Weidenfeld über Angela Merkels Prägekraft (7 Min)

Geboren in Hamburg, aufgewachsen in der DDR

Geboren wird Angela Dorothea Kasner am 17. Juli 1954 als Tochter eines evangelischen Pfarrers und einer Lehrerin in Hamburg. Weil der mit dem Sozialismus sympathisierende Vater eine Stelle in Brandenburg annimmt, wächst sie in der DDR auf. In der Schule gilt sie als ruhig, glänzt in den Fächern Russisch und Mathematik und macht ihr Abitur 1973 mit einem Durchschnitt von 1,0. Trotz des herausragenden Abschlusses darf sie von Staats wegen nicht, wie gewünscht, Lehrerin werden. Grund ist die kirchliche Bindung des Vaters. Die junge Angela entscheidet sich für ein Physikstudium. 1977 heiratet sie ihren Kommilitonen Ulrich Merkel, dessen Namen sie trotz der vier Jahre späteren Scheidung bis heute trägt. Merkel promoviert 1986 und arbeitet zunächst als Wissenschaftlerin.

Helmut Kohl fördert sein "Mädchen"

Helmut Kohl schüttelt Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Dresden 1991 die Hand. © picture alliance / dpa Foto: Michael Jung
Der Kanzler und das "Mädchen": Helmut Kohl fördert Angela Merkel besonders in den ersten Jahren ihrer politischen Karriere.

Das Ende des Ostblocks ist der Beginn von Merkels politischer Karriere. Der Fall der Mauerwird zum einschneidenden Erlebnis: "Was ich damals gefühlt habe, dafür kann ich keine Worte finden. Es war schier unfassbar", sagt sie später. Ende 1989 engagiert sie sich beim "Demokratischen Aufbruch" und wird nach der Volkskammerwahl im April 1990 stellvertretende Regierungssprecherin. Wenige Monate später wechselt sie zur CDU, kandidiert für den Bundestag - und gewinnt bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl ihren Wahlkreis Stralsund-Rügen-Grimmen.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl fördert Merkel, nennt sie sein "Mädchen" und macht sie 1991 zur Bundesministerin für Frauen und Jugend. Im Juni 1993 übernimmt sie den Landesvorsitz der CDU in Mecklenburg-Vorpommern und nach der Bundestagswahl 1994 das Amt der Bundesumweltministerin.

Merkels wichtigste Stationen

Erste Chefin einer Volkspartei

Nach der Wahlniederlage der Union 1998 steht die CDU vor einem personellen Neuanfang. Merkel gilt als "Zukunftshoffnung". Sie wird zur Generalsekretärin gewählt. Ende 1999 emanzipiert sich das mittlerweile 45-jährige "Mädchen" endgültig von seinem politischen Ziehvater: Als die CDU-Spendenaffäre um schwarze Konten und illegale Geldtransfers die Schlagzeilen beherrscht, bricht Merkel mit Kohl. Sie drängt auf Aufklärung und kritisiert den Altkanzler öffentlich.

Erste Frau an einer Parteispitze

Angela Merkel steht mit erhobener Hand an einem Rednerpult, hinter ihr das Logo der CDU © dpa-Bildfunk Foto: Christian Charisius
Angela Merkel hat sich in wenigen Jahren bis nach ganz oben gearbeitet.

Die Weichen für den innerparteilichen Neuanfang stellt die CDU auf ihrem Parteitag im April 2000. Merkel wird zur Parteichefin gewählt - und übernimmt als erste Frau in Deutschland den Vorsitz einer Volkspartei. Auf die Kanzlerkandidatur verzichtet sie bei der Bundestagswahl 2002 noch zugunsten von CSU-Chef Edmund Stoiber. Drei Jahre später steht sie bei der vorgezogenen Bundestagswahl auf Platz 1 der CDU-Liste - und gewinnt gegen Gerhard Schröder (SPD). Als erste Frau und Ostdeutsche wird Merkel am 22. November 2005 Kanzlerin und ist zudem mit 51 Jahren so jung wie keiner ihrer Vorgänger.

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Angela Merkel an einem Rednerpult
6 Min

Kompromiss um jeden Preis – Merkel und die Geldausgeber

Kritiker werfen der Bundeskanzlerin nach sieben Monaten Regierungszeit in der großen Koalition Unentschlossenheit vor. 6 Min

Merkels erster Regierungskoalition aus Union und SPD folgt 2009 ein Bündnis mit der FDP. Nach Schwarz-Gelb bildet Merkel 2013 erneut eine Große Koalition. Für die Bundestagswahl 2017 lässt sie sich erneut als Kanzlerkandidatin aufstellen und führt die Union als Spitzenkandidatin erneut zum Sieg. Allerdings verliert Merkels CDU im Vergleich zur Wahl 2013 mehr als sieben Prozentpunkte. Merkel muss sich aus den eigenen Reihen mehr oder weniger offen geäußerte Kritik anhören - und dann bricht die FDP auch noch die Sondierungsgespräche für eine schwarz-gelb-grüne Koalition ab.

Letzte Amtszeit, Klimakrise, Pandemie, Rückzug

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist dabei, sich auf einen Stuhl zu setzen. Neben ihr steht die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. © picture alliance/AP Photo Foto: Markus Schreiber
Den Empfang der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen absolvierte Angela Merkel teilweise im Sitzen.

Scharf auf eine Neuwahl ist man auch in der CDU nicht, denn wer weiß, ob sich der Negativ-Trend fortsetzen würde? Und so nimmt Merkel in den darauf folgenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD hin, dass ihre Partei als "Verlierer" der Neuauflage der GroKo bezeichnet wird, zumindest was die Verteilung der Ministerien angeht. Denn Merkel, inzwischen 63-jährig, will die vierte Amtszeit als Kanzlerin. Und mit der Führung einer Großen Koalition kennt sie sich aus. 171 Tage nach der Bundestagswahl lässt sich Merkel am 14. März 2018 zur Kanzlerin wählen. Es wird ihre letzte Amtszeit.

Ende 2018 beginnt Merkels allmählicher Rückzug: Sie gibt den CDU-Vorsitz ab, zur Nachfolgerin wird Annegret Kramp-Karrenbauer gewählt. Doch ruhig werden ihre letzten Jahre als Regierungschefin nicht. Zunächst rücken die Klimakrise und die Bewegung "Fridays for Future" in den Fokus. Merkels Umgang mit dem Klimaschutz wird von vielen kritisch gesehen. Ursprünglich engagiert sie sich für nationale und weltweite Klimaziele, doch der Stellenwert ihrer Bestrebungen nimmt in Laufe der Jahre ab. 2020 bricht dann die Corona-Pandemie aus. Die Naturwissenschaftlerin Merkel mahnt. Und handelt dennoch oft spät und zögerlich, wie ihr die Kritiker vorwerfen.

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Holger Kappel © NDR Foto: Screenshot
1 Min

"Sie ist anpassungsfähig in allen Systemen"

Für Holger Kappel ist der Politik-Stil von Angela Merkel "sehr totalitär" und "charakterschwach". Die Zukunft der CDU wünscht er sich ohne die Kanzlerin. 1 Min

Kritik auch wegen Russland und G20

Weitere Kritik, der sich Merkel stellen muss, bezieht sich auf Deutschlands Beziehung zu Russland. Die Kanzlerin habe zu zurückhaltend und mit Zugeständnissen agiert. Außerdem habe sie Präsident Wladimir Putin unterschätzt, lauten Vorwürfe. Ihre Beschwichtigungspolitik sei gescheitert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirft ihr vor, dadurch Russland gestärkt zu haben.

Dass Merkel für den G20-Gipfel 2017 ihre Geburtsstadt ausgewählt hat, nehmen ihr viele Hamburger übel - und nicht nur die. Bilder von gewaltsamen Protesten, brennenden Autos und geplünderten Geschäften gehen um die Welt. "Unbeschreiblich und unverantwortlich", kommentiert damals der NDR Merkels Entscheidung für den Austragungsort. Hunderte Millionen Euro Kosten, Hunderte verletzte und überforderte Polizisten, hinzu kam "eine politische Abschlusserklärung des Stillstands".

Die "Merkel-Raute"

Die Hände von Angela Merkel formen die für sie typische Geste, die Merkel-Raute. (08.09.2021) © picture alliance / dpa Foto: Bernd Thissen
Mit den aneinandergelegten Fingern ihrer Hände verschaffte sich Angela Merkel eine typische Geste: die Merkel-Raute.

In ihrer langen Amtszeit als Kanzlerin - Helmut Kohl war zehn Tage länger im Amt - prägt Merkel nicht nur die Politik. Als Person öffentlichen Interesses stehen ihr Stil und Auftreten immer wieder im Fokus, sei es ihre Pagenfrisur oder die als "Merkel-Raute" bekannte Geste, bei der sie ihre Hände so vor den Bauch hält, dass sich Daumen und Zeigefinger berühren.

Ihr Privatleben schirmt sie weitgehend von der Öffentlichkeit ab. Selten begleitet Joachim Sauer sie - seit 1998 ihr Ehemann - zu öffentlichen Terminen. Der fünf Jahre ältere Quantenchemiker lehrte bis 2017 an der Berliner Humboldt-Universität und galt als einer der weltbesten Wissenschaftler auf seinem Gebiet.

"Mutti" Merkel

Ihr Spitzname "Mutti" gefalle ihr, sagte sie einmal in einem Interview, da er umfasse, "dass man Verantwortung hat". In Umfragen stellten ihr die Deutschen regelmäßig ein gutes Zeugnis aus. Allerdings wurde oft auch kritisiert, sie stehe nicht für die konservativen Werte der Union - andere wiederum fanden genau diese Art von Politik progressiv: 2011 etwa setzt sie nach der Katastrophe von Fukushima den Atomausstieg durch und unterstützt die Aussetzung der Wehrpflicht, 2014 werden unter ihr zwei Lieblingsprojekte der Sozialdemokraten verabschiedet: die Rente mit 63 sowie der Mindestlohn. 2017 schließlich fällt ihr Widerstand gegen die "Ehe für alle".

"Wir schaffen das" erzeugt Zorn und Bewunderung

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert sich am 31.08.2015 in Berlin auf einer Pressekonferenz zu aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik © picture alliance/dpa Foto: Bernd Von Jutrczenka
Angela Merkel am 31. August 2015 - dem Tag, an dem sie es erstmals sagte: "Wir schaffen das."

Am 31. August 2015 sagt Angela Merkel einen einfachen Satz. Er lautet: "Wir schaffen das." Sie wird ihn noch mehrfach wiederholen, und er wird sich einprägen in das kollektive Gedächtnis. Merkel sagt diesen Satz in einer Zeit, in der vor allem aus Syrien immer mehr Menschen nach Europa flüchten. Menschen, für die die Behörden auf Merkels Entscheidung hin die deutsche Grenze offen lassen.

"Wir schaffen das" ist wahrscheinlich sogar der zentrale Satz von Merkels Amtszeit, sie zieht sich damit den Zorn vieler zu, die sie vorher schätzten - und bekommt zugleich die Bewunderung von Menschen, welche vorher nichts für sie übrig hatten. Es sind Worte, die die Menschen immer mit ihr verbinden werden. Kennedy: "Ich bin ein Berliner", Kohl: "blühende Landschaften", Merkel: "Wir schaffen das."

"Ereignisreich und oft sehr herausfordernd"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält bei ihrer Verabschiedung durch die Bundeswehr 2021 eine Rede. © picture alliance/dpa/AFP POOL Foto: Odd Andersen
Zu ihrer Verabschiedung 2021 hat sich Merkel das Lied "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen gewünscht.

Beim traditionellen Großen Zapfenstreich zu ihrem Abschied im Dezember 2021 wünscht Merkel sich vom Stabsmusikkorps der Bundeswehr neben dem Kirchenlied "Großer Gott, wir loben dich" und Hildegard Knefs "Für mich soll’s rote Rosen regnen" Nina Hagens "Du hast den Farbfilm vergessen". "Ein Highlight meiner Jugend", bekennt Merkel und erwähnt, dass die Geschichte des Songs am Ostseestrand in ihrem ehemaligen Wahlkreis spielt.

Auf ihre 16 Jahre als Bundeskanzlerin blickt Merkel mit Dankbarkeit: "Sie haben mich politisch und menschlich gefordert, und zugleich haben sie mich immer auch erfüllt." Vor allem sei ihre politische Arbeit "ohne die vielfältige Unterstützung politischer Weggefährten, national wie international, nicht möglich gewesen".

"Mal gucken, was mir so in den Kopf kommt"

Frankreichs Präsident Macron gibt der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel einen Handkuss, Mai 2024 © picture alliance / dpa Foto: Bernd von Jutrczenka
Frankreichs Präsident Macron gibt Ex-Kanzlerin Merkel im Mai 2024 einen Handkuss.

Auf die Frage, was sie nach ihrer Zeit als Bundeskanzlerin vorhabe, sagte sie offensichtlich tiefenentspannt im Interview mit der Deutschen Welle: "ausruhen, mal gucken, was mir so in den Kopf kommt". Man sieht immer mal wieder Fotos von ihr in den sozialen Medien: Merkel im Supermarkt, Merkel beim Bäcker. Nur ab und an erscheint sie noch zu offiziellen Anlässen, etwa beim Deutschland-Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Mai 2024. Berlin ist sie treu geblieben, sie lebt mit ihrem Mann weiterhin mittendrin, gegenüber vom Pergamonmuseum.

"Freiheit" und "Schicksalsjahre einer Kanzlerin"

Ende 2024 erscheinen ihre politischen Memoiren unter dem Titel "Freiheit". Sie hat sie mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfasst. Die ARD hat aus Anlass von Merkels 70. Geburtstag eine sechsteilige Dokumentation produziert: "Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin". Sie ist auch in der ARD Mediathek zu sehen.

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Angela Merkel in der Doku "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" © picture-alliance/dpa/Rolf Vennenbernd Foto: Rolf Vennenbernd

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 17.07.2024 | 08:10 Uhr

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