#everynamecounts: 70.000 Namen gegen das Vergessen digitalisiert
Mit den Arolsen Archives befindet sich in Hessen das weltweit größte Archiv über Opfer und Überlebende des NS-Regimes. Zehntausende Akten sollten anlässlich des Holocaust-Gedenktags 2023 digitalisiert werden - mitmachen war und ist bei #everynamecounts weiter ausdrücklich erwünscht.
Es wäre ein großer Schritt gegen das Vergessen, könnte man eines Tages den Namen und die Geschichte eines jeden Holocaust-Opfers mit einer einfachen Internet-Recherche finden. Genau das haben sich die Arolsen Archives in Hessen zum Ziel gesetzt. Dort befindet sich das weltweit größte Archiv über die Opfer und die Überlebenden des NS-Regimes - und Zehntausende Akten sollen digitalisiert werden. Jeder kann dabei mitmachen. Rund um den Holocaust-Gedenktag haben besonders viele Freiwillige mitgeholfen - auch in Norddeutschland.
#everynamecounts: Aktion rund um Holocaust-Gedenktag
Marie Zachger zum Beispiel hat die Daten ins System eingetippt, die auf der Häftlingskarte auf ihrem Bildschirm zu lesen sind. Die Studentin aus Hamburg hat sich an der sogenannten Challenge des Arolsen Archives zum Holocaust-Gedenktag beteiligt: 30.000 Häftlingskarten aus dem Konzentrationslager Stutthof in Polen sollten innerhalb einer Woche digitalisiert werden. #everynamecounts, jeder Name zählt - so der Name der Aktion.
50 Namen hat die Hamburgerin in das System eingetragen und gemerkt: 50 Namen, 50 Schicksale. Bei jedem habe sie versucht, den Namen auszusprechen und dem Hintergrund dieser Tätigkeit gerecht zu werden: "Man weiß ja, dies ist eine Person."
Form des Gedenkens fördert Nähe zu Einzelschicksalen
Eine Form der Erinnerungskultur, die bei den Arolsen Archives heutzutage vor allem digital gedacht wird, sagt die Direktorin Floriane Azoulay: "Wir haben festgestellt, dass die Teilnahme an #everynamecounts eine sehr niederschwellige und intuitive Art des Gedenkens ist. Und man tut etwas, das nachhaltig ist, indem man einen Namen erfasst." So komme man dem Schicksal einer Person sehr nah - und lerne etwas dazu.
Das erlebte auch Marie Zachger so: "Ich hatte das etwa häufig, dass einige Geburtstag gehabt hätten. Das sind dann so Momente … Oder wenn man sieht, die Person - das Kind - war damals fünf Jahre alt, als es deportiert wurde. Das sind dann besonders erschreckende Momente, die einem nahegehen."
Weltweit größtes Archiv über Opfer des NS-Regimes
Zachger hat mit ihrer Arbeit dabei geholfen, die historischen Dokumente der Arolsen Archives für alle zugänglich zu machen. Das Archiv im hessischen Bad Arolsen in Hessen, früher bekannt unter dem Namen Internationaler Suchdienst (ITS), beherbergt eine Sammlung mit Hinweisen zu mehr als 17,5 Millionen Menschen. Dieses UNESCO-Weltdokumentenerbe umfasst Unterlagen zu den verschiedenen Opfer-Gruppen des NS-Regimes - von nationalsozialistischer Verfolgung über Zwangsarbeit bis zum Holocaust.
Opfer-Biografien sollen rekonstruiert werden
Die Digitalisierung dieses Bestands wäre ohne die Hilfe von Freiwilligen nicht machbar, sagt Direktorin Azoulay: "Es sind noch Millionen von Namen, die erfasst werden müssen. Unser Ziel ist es, diese Biografien soweit es geht zu rekonstruieren - und diese Daten zur Verfügung zu stellen." Bei der Bearbeitung gilt ein Sechs-Augen-Prinzip: Jedes Dokument wird von drei verschiedenen Helfer*innen bearbeitet. Und nur, wenn deren Eingaben identisch sind, werden die Daten ins Archiv übernommen.
Auch Roma Mukherjee hat sich an der Aktion beteiligt. Die 48-Jährige weiß, wie wichtig diese Arbeit für Angehörige ist. "Ich kenne Leute, die durch Besuche in Arolsen etwas über ihre Verwandten erfahren haben, und ich weiß, dass das ihnen sehr wichtig war." Und selbst, wenn es keine Angehörigen mehr gibt: "Diese unfassbare Anzahl an Menschen, die ermordet worden sind und kein Grab erhalten haben" - dass wenigstens namentlich an sie erinnert wird, sei wichtig.
"Entscheidungsträger von morgen abholen, wo sie aktiv sind"
Sowohl Marie Zachger als auch Roma Mukherjee haben in den Sozialen Medien von der Aktion erfahren. Auch ein Ansatz der Arolsen Archives, Erinnerungskultur neu zu denken: "Unsere Zielgruppe ist die jüngere Generation. Das sind die Entscheidungsträger von morgen. Das sind diejenigen, die wir aktivieren und sensibilisieren wollen", sagt Direktorin Azoulay. "Und wir wollen sie dort abholen, wo sie aktiv sind. Das ist auf Social Media. Und wir sehen auch: Wenn wir uns auf Formate einschwingen, die für diese Generation gemacht sind, sprechen sie zum Beispiel die ältere Generation, meine Generation genauso an."
70.000 Namen von NS-Verfolgten digitalisiert
Damit hat das internationale Zentrum über NS-Verfolgung in Bad Arolsen auch Erfolg: "Dank der Hilfe von über 15.000 Freiwilligen aus der ganzen Welt haben wir das Ziel der Challenge erreicht und konnten nun insgesamt knapp 70.000 Namen von NS-Verfolgten aus verschiedenen KZ und aus einer Suchkartei aus der frühen Nachkriegszeit erfassen", schreiben die Verantwortlichen auf ihrer Homepage. Auch 160 Institutionen und Unternehmen hätten sich mit ihren Netzwerken beteiligt.
Für die Zukunft hoffen die Initiatoren auf weitere Freiwillige, die sich an der Digitalisierung von Millionen Schicksalen beteiligen. Informationen dazu gibt es auf der Website zu #everynamecounts unter https://everynamecounts.arolsen-archives.org.