Nie wieder Krieg - Die Lehren aus dem 8. Mai 1945
Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 beendet den Zweiten Weltkrieg in Europa. Die Alliierten befreien Deutschland vom Nationalsozialismus. Zu beklagen sind die Opfer der NS-Verbrechen: Dutzende Millionen Menschen, die im Holocaust und durch den "totalen Krieg" ihr Leben verloren haben. Herfried Münkler spricht über die Lehren, die wir aus diesem Tag ziehen können.
Am Ende des Ersten Weltkrieges, Anfang November 1918, stellte das Deutsche Reich die Weiterführung eines Krieges ein, den es nach übereinstimmender Einschätzung seiner Generäle nicht mehr gewinnen konnte. Die Verbündeten Deutschlands hatten inzwischen allesamt um Waffenstillstandsverhandlungen nachgesucht, man stand also allein da, und die eigenen Truppen waren erschöpft. Die Politiker, die während des Krieges von den Militärs in den Hintergrund gedrängt worden waren, nahmen das Heft des Handelns wieder in die Hand und unterzeichneten das Waffenstillstandsabkommen.
Kapitulation im letzten Augenblick
Am Ende des Zweiten Weltkrieges, Anfang Mai 1945, sah die Lage für Deutschland gänzlich anders aus: Sowjetische, US-amerikanische und britische Divisionen waren tief ins Deutsche Reich vorgedrungen und hatten den von der Wehrmacht gehaltenen Raum in mehrere Gebiete aufgespalten. Fast alle deutschen Großstädte waren zu Trümmerwüsten geworden, und auf den Straßen ballten sich Flüchtlingstrecks. Doch selbst nach Hitlers Selbstmord dauerte es noch mehr als eine Woche, bis sein Nachfolger Dönitz in die Kapitulation einwilligte. Zuletzt hatte Dönitz damit rechnen müssen, dass britische Truppen sein Hauptquartier in der Marineschule Mürwick besetzen würden. Es war eine Kapitulation buchstäblich im letzten Augenblick.
Hitler und seine Paladine hätten Deutschland und Europa viele Tote ersparen können, wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt kapituliert hätten - im August 1944 etwa, als Briten und Amerikaner aus den Brückenköpfen in der Normandie ausgebrochen und tief nach Frankreich hinein vorgestoßen waren und auch die Rote Armee den Mittelabschnitt der deutschen Ostfront zerschlagen und mit dem Vormarsch Richtung Weichsel begonnen hatte. Aber für Hitler war dieser Krieg ein Weltanschauungskrieg, den man nicht nach Stand der militärischen Lage beenden konnte, sondern der bis zum Schluss durchzuziehen war. Obendrein hatten sich die Kriegsgegner inzwischen darauf verständigt, dass sie nur eine bedingungslose Kapitulation Deutschlands akzeptieren würden. Und angesichts der verbrecherischen Art der Kriegführung konnten weder Politiker noch Generäle in Deutschland damit rechnen, dass sie straflos bleiben würden - also setzten sie den Krieg fort und hofften bis zuletzt auf ein Wunder.
Krieg ja, aber kein Weltkrieg
Es gehört zu den Gründungserzählungen der alten Bundesrepublik, dass die Deutschen einigermaßen glimpflich hätten davonkommen können, wenn Hitler den Krieg beendet hätte, als er noch "Faustpfänder" in der Hand hatte. Nicht dass er den Krieg begonnen hatte, nahmen viele Deutsche ihm übel, sondern dass er ihn nicht "rechtzeitig" beendet hatte. Sie übersahen dabei, dass man einen Krieg zwar aus eigenem Entschluss beginnen, ihn aber nicht gleichermaßen beenden kann - außer man steht bereits eindeutig als der Sieger fest. Dieser Illusion waren viele Deutsche seit 1938 erlegen: Man führte räumlich und zeitlich getrennte Kriege, die man dann als "Feldzüge" bezeichnete - "Polenfeldzug", "Frankreichfeldzug" usw. Wovor man sich hüten musste, war, mit vielen Gegnern in einen lange währenden Krieg verwickelt zu werden, den man, wie sich im Ersten Weltkrieg gezeigt hatte, nicht gewinnen konnte. Das war die Sicht der national-konservativ Eingestellten: Krieg ja, aber kein Weltkrieg. Als der "Russlandfeldzug" im Spätherbst 1941 vor Moskau erst im Schlamm und dann im Eis steckenblieb, dämmerte einigen, dass diese "Feldzüge" erneut auf einen Weltkrieg hinauslaufen würden, zumal nach Hitlers Kriegserklärung an die USA.
Die Folgebereitschaft und Zuversicht der Deutschen
Wer die Folgebereitschaft der Deutschen gegenüber Hitlers Kriegspolitik verstehen will, muss sich noch einmal an das Ende des Ersten Weltkriegs, an dessen politisch-psychologische Verarbeitung sowie dessen militärische Lernergebnisse zurückerinnern. Hindenburg und Ludendorff hatten sich damals aus der Verantwortung geschlichen und danach die Legende vom "Dolchstoß" der politischen Linken in den Rücken des "im Felde unbesiegten Heeres" lanciert. Die Vorstellung, man habe den Krieg nur verloren, weil man zu früh aufgegeben habe, erklärt unter anderem auch den Durchhaltefanatismus am Ende des Zweiten Weltkrieges - eingeschlossen die obsessive Vorstellung, die Deutschen hätten den Ersten Weltkrieg nur verloren, weil sie nicht hart genug gegen Deserteure und "Drückeberger" vorgegangen seien. Wer im Verdacht stand, aufgeben zu wollen, wurde noch in den letzten Kriegstagen 1945 als abschreckendes Beispiel öffentlich gehenkt.
Für die deutsche Zuversicht der Jahre 1939 bis 1941 war ausschlaggebend, dass man aus den Fehlern des Ersten Weltkriegs gelernt zu haben glaubte: Man musste einen Zwei-Fronten-Krieg vermeiden, und deswegen war der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 ein politischer Coup, dessen psychologische Wirkung auf Militär und Bevölkerung kaum überschätzt werden kann. Die französisch-britische Kriegserklärung nach dem deutschen Überfall auf Polen hat diese Wirkung kurzzeitig begrenzt, aber als Polen bald bezwungen war, breitete sich Zuversicht aus, dass es dieses Mal besser laufen würde als im Ersten Weltkrieg - zumal man dieses Mal auch nicht in Materialschlachten und Stellungskrieg verwickelt wurde wie damals. Also zog man frisch und fröhlich von Feldzug zu Feldzug - und mit einem Mal befand man sich in einem Weltkrieg, den man doch unter allen Umständen hatte vermeiden wollen.
Weltkriege werden nicht geplant oder gewollt
Weltkriege, so lässt sich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts resümieren, werden nicht geplant oder gewollt, sondern entstehen hinter dem Rücken der Akteure und zumeist auch gegen den Willen derer, die den Krieg begonnen haben. Das war bereits 1914 so, als Deutsche, Franzosen, Russen Plänen folgten, die eine schnelle Kriegsentscheidung sicherstellen sollten. Einzig Seemächte haben eine Tendenz, Kriege auf lange Dauer hin zu planen. Landmächte dagegen setzen in ihren Kriegsplanungen auf schnelle Entscheidungen. Aber wenn die nicht fallen und sich der Krieg in die Länge zieht, entstehen Weltkriege, die dadurch definiert sind, dass sie lange dauern und auf mehreren "Kriegsschauplätzen" geführt werden. Der Blick in die Gegenwart zeigt, dass die Ära der Weltkriege nicht zu Ende ist, wenn man "Weltkrieg" so versteht. Die Europäer freilich sind darin allenfalls marginal verwickelt, und die Deutschen haben sich politisch dahingehend positioniert, dass sie einen solchen Weltkrieg nie wieder auslösen wollen. Da der freilich hinterrücks entsteht und so weder gewollt noch geplant wird, heißt das, dass sie sich am besten an keinem Krieg beteiligen. Das gilt auch für die Japaner, die auf der anderen Seite der Erdkugel eine ähnliche Erfahrung gemacht haben wie die Deutschen.
"Kleine Weltkriege" räumlich und zeitlich begrenzen
Der Dritte Weltkrieg, wie man prophylaktisch eine mit Nuklearwaffen ausgetragene Konfrontation zwischen West und Ost genannt hat, hat nicht stattgefunden. Stattdessen haben sich "kleine Weltkriege" entwickelt. Da ist etwa der "afrikanische Weltkrieg", der im Gebiet der großen Seen ausgetragen wurde und wird: Internationale Organisationen schätzen die Zahl der in diesem Krieg Getöteten und an seinen Begleiterscheinungen Gestorbenen auf über vier Millionen Menschen. Ein anderer "kleiner Weltkrieg" ist der, welcher zwischen Maghreb und Hindukusch stattfindet, mit Libyen, Syrien, Jemen und Afghanistan als Hauptstationen. Auch das ist ein Krieg, der sich über Jahrzehnte hinzieht, dabei seine Schwerpunkte immer wieder verlagert und den auch von außen eingreifende Interventionsmächte nicht zu beenden vermochten - im Unterschied zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Vor allem die USA haben das schmerzlich lernen müssen.
Will man die Formel "Nie wieder Weltkrieg" auf diese "kleinen Weltkriege" anwenden, dann heißt das, dafür Sorge zu tragen, dass sie auf das Gebiet, in dem sie ausgetragen werden, beschränkt und die Kriegsherde möglichst voneinander getrennt bleiben. Die Lernformel ist umgestellt worden von der Selbstverpflichtung, sich aus allen Kriegen herauszuhalten, auf ein politisches Handeln, das "kleine Weltkriege" räumlich wie zeitlich begrenzen soll. Das ist normativ deutlich bescheidener, realpolitisch aber sehr viel anspruchsvoller. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist das die politische Lektion, die inzwischen auch Deutschland gelernt hat.