Vor 35 Jahren: Wie Demonstranten Stasi-Akten in Rostock retteten
Als im Dezember 1989 Mitarbeiter der Stasi-Behörde in Rostock Akten verschwinden lassen wollen, werden sie von Demonstranten daran gehindert. Gerhard Rogge erinnert sich an den Tag, der sein Leben verändert.
Am 4. Dezember 1989 klingelte gegen 20 Uhr das Telefon bei Gerhard Rogge. Mit diesem Anruf begann sich sein Leben zu verändern. Er und seine Frau Ingeborg sollten sofort zum Gebäude der Staatssicherheit in Rostock kommen. Demonstranten blockierten seit einer Mahnwache am Nachmittag die Eingänge, um zu verhindern, dass die Stasi-Mitarbeiter Akten wegschafften, und sie brauchten Unterstützung. "Wir riefen noch weitere Freunde an, packten ein paar warme Sachen und eine Thermoskanne mit heißem Tee ein und machten uns auf den Weg", erzählt Rogge dem NDR 2009. Er ist 1989 44 Jahre alt.
Zugang zur Stasi-Behörde? "Tanz auf dem Vulkan"
Rogge und seine Frau gingen zum Hintereingang des grauen Stasi-Komplexes an der August-Bebel-Straße. Eine Mauer mit Stacheldraht umschloss den 50er-Jahre-Bau, nur unterbrochen von den drei großen Eingängen. Vor dem Flügeltor aus glattem Stahl und der kleinen backsteinernen Pförtnerloge hatten sich an diesem Abend etwa 200 Menschen im grellen Licht der Scheinwerfer versammelt, die neben Überwachungskameras auf der Mauer angebracht waren. "Die Stimmung vor dem Tor erinnerte an ein Volksfest", berichtet Rogge 2009. "Aber es war der Tanz auf dem Vulkan, denn allen war bewusst, dass wir an einer Grenze stehen und dahinter die Truppe sitzt, vor der alle in der DDR am meisten Angst hatten."
Vernichten, was vernichtet werden kann
In den Tagen zuvor war durchgesickert, dass die Stasi-Mitarbeiter überall im Land tonnenweise Akten, Filme und Disketten vernichteten. "Es wurden vermehrt Transporte und die berühmten rauchenden Schornsteine beobachtet, und wir begannen überall zu fragen, was vor sich geht", erinnert sich Rogge. Noch vor zwei Wochen hätte sich niemand direkt vor die Eingangstore der Staatsicherheit getraut. "Mir war immer mulmig, wenn ich da vorbeigegangen bin", sagt Rogge. "Denn man wusste ja, da arbeiten Leute, die können dich zu jeder Zeit von der Straße oder aus deinem Haus holen, und es gibt keine Macht der Welt, die etwas dagegen unternehmen kann."
Aber an diesem 4. Dezember war in vielen Städten in der DDR die Wut größer als die Angst. Fünf Mitglieder des Neuen Forums verhandelten bereits seit dem Nachmittag mit Generalleutnant Rudolf Mittag, dem Chef der Rostocker Stasi-Behörde. Sie forderten Einlass in das Gebäude, einen unabhängigen Untersuchungsausschuss und den Stopp der Aktenvernichtung. Ein Erlass der Modrow-Regierung in Berlin, der das Vernichten von Unterlagen verbot, stärkte ihnen den Rücken. Gegen 21 Uhr stimmte Mittag schließlich zu, einige der Demonstranten ins Haus zu lassen. Rogge war einer von ihnen.
"Wenn der erste Schuss fällt, ist alles zu Ende"
Rogge und die anderen Männer kamen in einen stockfinsteren Innenhof. Das Gemurmel der Demonstranten drang über die Mauer zu ihnen. "Als wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen wir, dass in etwa zehn Metern Entfernung zwei Gruppen Männer in Kampfanzügen mit Stahlhelmen auf den Köpfen standen", sagt Rogge. "Sie waren mit Maschinenpistolen und allem Drum und Dran ausgerüstet und beobachteten das Tor. Ich konnte die Spannung fühlen, unter der sie standen." Ein paar Minuten standen sie sich reglos gegenüber. Dann griffen von draußen die ersten Hände über das Tor und die Mauer.
"Ich spürte, wie ein Ruck durch die Gruppe bewaffneter Männer ging", erinnert sich Rogge an den Moment der größten Angst in dieser Nacht. "Sie begannen, sich in Position zu bringen, und mir war klar: Wenn der erste Schuss fällt, ist alles zu Ende." Als die ersten Köpfe über der Mauer auftauchten, hörte Rogge eine energische Stimme: "Keine Gewalt, keine Provokation!" Und tatsächlich verschwanden die Hände. Die Stasi-Männer ließen ihre Waffen sinken.
Bürger inmitten der sensibelsten Akten
Rogge wurde in das schummrig erhellte Foyer des Hauptgebäudes geleitet, wo schon zahlreiche Demonstranten warteten. Sie stellten zwei Gruppen von jeweils etwa zehn Männern zusammen und klingelten zwei Staatsanwälte aus dem Bett, mit deren Hilfe sie die Räume im Gebäude ordnungsgemäß versiegeln wollten. Später schrieb er in einem Erlebnisbericht: "Ich stehe kurz bei meiner Frau, wir umarmen uns, bis jetzt ist alles gutgegangen. 'Bis nachher', jeder geht zu seiner Gruppe." Die beiden Gruppen begannen ihren Rundgang durch die knapp 2.000 Räume der riesigen Stasi-Zentrale. Das Hauptgebäude hatte vier Stockwerke und eine Kelleretage, es gab die Untersuchungshaftanstalt, mehrere Verbindungsgebäude, ein Hochhaus, in dem die Kreisdienststelle der Staatssicherheit untergebracht war, und die Hallen für den eigenen Fuhrpark. "Wir hatten ja keine Vorstellung vom Grundriss und liefen in dem Gebäudekomplex rum wie Falschgeld", sagt Rogge.
Stasi-Mitarbeiter nach Hause geschickt
Trafen sie auf Stasi-Mitarbeiter, schickten sie sie nach Hause und versiegelten die Bürotüren. "Aber die Staatsanwälte waren ja auch mehr oder weniger 'rote' Leute, denn sonst wären sie gar nicht in dieser Position gewesen", erinnert sich Rogge an die wenig kooperativen Juristen, denen es offensichtlich ein Gräuel war, dass normale Bürger nun Zugriff auf die sensibelsten Akten haben würden.
Nachdem die Männer schon durch unzählige notbeleuchtete Gänge und Büros gegangen waren, kamen sie zu dem Raum, in dem alle Informationen der Beobachtungsposten auf dem Gelände zusammenliefen. Hier saß ein Stasi-Mitarbeiter, beobachtete die Monitore der Überwachungskameras und protokollierte die minütlich eingehenden Meldungen. "Diese penible Lageerfassung endete, als wir das Zimmer betreten und ihm den Stift aus der Hand genommen haben", erzählt Rogge. Noch bis zu diesem Zeitpunkt sei für die Stasi-Leute einfach nicht vorstellbar gewesen, dass sie tatsächlich die Kontrolle verlieren könnten.
"Wir haben gerade die Stasi dichtgemacht"
Erst morgens um sechs Uhr war der gesamte Komplex leer, bis auf die Polizei, die in der Zwischenzeit die Überwachung übernommen hatte. "Wir sind dort sehr erschöpft raus, und ich musste gleich weiter zur Arbeit", sagt Rogge. "Ich weiß noch, dass ich auf dem Weg die Postbotin traf. Ich sagte zu ihr: 'Wir haben gerade die Stasi dichtgemacht.' Und sie hat geantwortet: 'Ist ja prima.'"
Auflösung der Zentrale
In den Tagen nach der Räumung wurde ein unabhängiger Untersuchungsausschuss gegründet, der die Stasi-Zentrale - im Prinzip eine eigene kleine Stadt mit medizinischer Versorgung, einer Bank und einem immensen Waffenarsenal im Keller - auflösen sollte. Rogge war Gründungsmitglied dieses Ausschusses und erinnert sich noch an einen Tag, an dem er mit einem Stasi-Mitarbeiter wieder einmal durch die unendlichen Flure des Gebäudes ging. "Herr Rogge", habe der Mann zu ihm gesagt, "jetzt wissen Sie mehr als jeder andere hier im Haus." "Da verstand ich, dass er in seinem militärisch obrigkeitsgewöhnten Denken mich als seinen neuen Chef installiert hatte. Ich hätte ihm jetzt sagen können: 'Machen Sie dies und machen Sie das.' Er hätte die unsinnigsten Befehle ausgeführt."
Eine Erkenntnis, die für den Pfarrerssohn, der sich seit Anfang der 80er-Jahre in der Friedensbewegung engagierte, nur schwer auszuhalten war. Rogge arbeitete nie wieder in seinem Beruf als Diplomingenieur für Schiffbau. Bis zum 3. Oktober 1990 blieb er im unabhängigen Untersuchungsausschuss. Nach der Wiedervereinigung baute er die Landessozialbehörde in Rostock mit auf, eine Behörde, die es so in der DDR nie gegeben hat.
Ehepaar Rogge als Zeitzeugen aktiv
Das Ehepaar Rogge ist noch heute aktiv, wenn es darum geht, an die Ereignisse rund um den 4. Dezember 1989 zu erinnern. So nehmen sie anlässlich des 35. Jahrestags der friedlichen Besetzung der Bezirksverwaltung der Stasi in Rostock im heutigen Haus der Justiz als Zeitzeugen an einer Gedenkveranstaltung teil.
* Die Autorin ist nicht mehr für den NDR tätig. Die Urfassung dieses Beitrags ist bereits 2009 veröffentlicht worden.