Gysi über die Wende: "Es wurden Fehler begangen"
Als 20-Jähriger trat Gregor Gysi 1967 in die SED ein. Noch kurz vor dem Fall der Mauer warb er weiterhin für die DDR, den Staat und seine Akteure. Nach der Wende wurde er Vorsitzender der PDS. Später war er mehrere Jahre Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, dem er auch heute noch angehört. Seine Gedanken an die DDR und den Wendepunkt im Herbst 1989 sind vor allem politische.
Die Situation in der DDR spitzte sich 1988/1989 immer mehr zu. Auf der einen Seite hatte es während der Kanzlerschaft von Willy Brandt und Helmut Schmidt Beziehungen zur DDR gegeben, in denen Politik gegen Politik getauscht wurde. Helmut Kohl änderte es und tauschte nur Politik gegen Geld. Dadurch wurde die DDR immer abhängiger, was ihre wirtschaftliche Situation erschwerte. Auf der anderen Seite gab es in der Sowjetunion Michail Gorbatschow, der wichtige politische Reformen unter den Stichworten Glasnost und Perestroika einleitete. Die SED-Führung wehrte sich gegen diese Erneuerung, löste sich immer stärker von der sowjetischen Führung, obwohl nur diese die Existenz der DDR sichern konnte.
Der Widerstandsgeist wuchs
Die SED-Führung änderte auch kaum ihre Politik in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Sie setzte immer noch Maßstäbe wie in den 50er- und 60er-Jahren. Diese Jugend war aber zu einer anderen Zeit aufgewachsen, dachte und fühlte anders. Der Widerspruch verschärfte sich täglich. Immer mehr Menschen waren von Michail Gorbatschow und seinen Reformen überzeugt. Sie merkten, dass sie nicht mehr die Sowjetunion gegen sich hatten, sondern an ihrer Seite und sie es nur mit der SED-Führung aufnehmen mussten. Das trauten sie sich zu. Am 17. Juni 1953 war es völlig anders. Mit anderen Worten, der Widerstandsgeist wuchs. Die DDR-Führung konnte ein bestimmtes Verhalten in der DDR weder unterbinden noch erlauben. Wenn man beides nicht kann, nähert man sich seinem Ende.
Der Maueröffnung durch Günter Schabowski lag ein Missverständnis zugrunde. Aber es ist nicht selten, dass große Weltereignisse durch Missverständnisse entstehen. Unabhängig davon hätte die Mauer ohnehin nicht mehr lange gehalten.
Ein Jubel durchzog die Bevölkerung. Es entstand dann auch der Wunsch nach einer Vereinigung. Endlich Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit - und vor allem Reisefreiheit. Endlich eine Währung, mit der man weltweit bezahlen konnte. Endlich auch ein größeres und vielfältigeres Dienstleistungs- und Warenangebot. Menschen wissen sehr genau, was ihnen fehlt, allerdings weniger genau, was sie haben.
Es wurden schwerwiegende Fehler begangen
Denn in der DDR fürchtete sich so gut wie niemand, seinen Job zu verlieren. Es fürchtete sich auch niemand vor steigenden Preisen von Lebensmitteln, höheren Mieten oder gar vor einer Zwangsräumung aus der Wohnung. Man kannte soziale Unterschiede, aber nicht einen solchen Reichtum und eine solche Armut, wie man sie heute erlebt. Den Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur musste man sich nicht leisten können. Sozial herrschte Chancengleichheit beim Zugang - leider nicht politisch. Inzwischen fehlen vielen Ostdeutschen diese Seiten.
Auch die Menschen in der alten Bundesrepublik freuten sich damals auf die kommende Einheit. Auch sie sind inzwischen enttäuscht. Nach ihrer Auffassung kostet der Osten nur Geld, aber es kommt keins heraus, die Ostdeutschen nörgeln und wählen zumindest merkwürdig.
Dieses mangelnde gegenseitige Verständnis hat damit zu tun, dass die Bundesregierung bei der Herstellung der Einheit nicht aufhören konnte zu siegen, dass sie nicht bereit war, eine Vereinigung zuzulassen. Der Osten sollte nur so werden wie der Westen. Sowohl politisch als auch psychologisch als auch ökonomisch wurden schwerwiegende Fehler begangen.
Der Kampf muss noch energischer geführt werden
Es wurde kein Symbol der Bundesrepublik verändert, wie es eigentlich bei einer Vereinigung geschehen müsste. Egal, ob ich an die Hymne, die Fahne, das Emblem oder Bezeichnungen von Bundesbehörden denke. Es hätte nichts geschadet, einige Begebenheiten aus der DDR für ganz Deutschland zu übernehmen. Zum Beispiel die höhere Gleichstellung der Frauen, die Polikliniken, die Berufsausbildung mit Abitur. Dies hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen erhöht, und die Westdeutschen hätten erlebt, dass wegen des Hinzukommens des Ostens sich in mehreren Punkten ihre Lebensqualität erhöht hätte. Das wurde ihnen aber nicht gegönnt und hat in ihrem Denken und Fühlen Folgen bis heute.
Der Osten wurde zusätzlich wirtschaftlich angepasst und deindustrialisiert mit der Folge von Massenarbeitslosigkeit. Es ging nicht um den Erhalt und Aufbau einer ostdeutschen Wirtschaft, sondern um die Befriedigung westdeutscher Wirtschaftsbedürfnisse, die Verhinderung von Konkurrenz und den Zugang zu einem neuen Markt.
Trotz alledem: Die Einheit verhindert einen Krieg zwischen zwei deutschen Staaten. Sie ist auch für kommende Generationen ein Gewinn. Wenn man sich besser gegenseitig kennenlernt, wird man sich auch besser verstehen. Allerdings muss der Kampf für Frieden, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung und Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Kunst, Kultur, die Gleichstellung von Frauen und Männern und von Ostdeutschen und Westdeutschen noch deutlich energischer geführt werden.