"Lieber Chef als arbeitslos"
Vom Lagerarbeiter zum Chef: Günther Neumann kauft mit drei Mitstreitern nach 1990 die "Mecklenburger Backstuben" von der Treuhand. Heute arbeiten zwei Generationen im Familienunternehmen zusammen.
Dass er hier mal mit seiner Frau und seinen Töchtern arbeiten würde, daran hat Günther Neumann 1984 nun wirklich nicht geglaubt. Damals fängt er in der damaligen Warener Großbäckerei an - als Lagerarbeiter, nachdem er seinen vorherigen Job wegen unerlaubten Besuchs aus dem Westen verloren hatte. Schon das war für ihn Neuland: "Ich hätte auch Besen verkauft oder irgendwas anderes gemacht", sagt Günther Neumann. Wichtig sei gewesen, Wertschätzung zu bekommen - durch Leistung. Das treibe ihn noch heute an. Und auch zu wissen, dass eine stabile Familie ihm den Rücken stärkt, sei damals gut gewesen.
Familienbetrieb mit 550 Mitarbeitern
Als die Mauer fällt, kauft Neumann den Betrieb mit drei Mitstreitern im "Mangement buy out" von der Treuhand. "Lieber Chef als arbeitslos", das ist seine Devise. "Es gab nicht so viele Chancen, aber es gab die Möglichkeit, etwas zu tun, sich neu zu finden und Arbeit zu haben", sagt der heute 70-Jährige. "Man muss nicht immer gleich alles wissen, aber man muss anfangen". Damals sei es darum gegangen, die Chancen der Bäckerei zu erkennen, zu beobachten wie sich der Markt entwickelt und sich abzuheben von anderen. Schon vor der deutschen Einheit eröffnen die Mecklenburger Backstuben so ihr erstes Geschäft. Heute sind es 60 Backstubencafés und Geschäfte. Mehr als 550 Mitarbeiter hat das Unternehmen. Damit sind die Mecklenburger Backstuben einer der größten Arbeitgeber der Region. Neuland, sagt Günther Neumann, sei für ihn, sich immer wieder neu in Frage zu stellen. Denn Erfolg sei immer von gestern.
"Wir fühlen uns nicht ostdeutsch"
Seit 2005 sind die Mecklenburger Backstuben ein reines Familienunternehmen. Heute arbeiten zwei Generationen in der Unternehmensleitung: Die Töchter Kathrin Rossa und Christina Kohn sind Marketingchefin und Vertriebschefin in Waren. Beide kamen freiwillig ins Unternehmen. Christina Kohn ist im Betrieb heute für die Filialen verantwortlich. Von ihrem Vater, sagt sie, habe sie gelernt, dass die menschliche Beziehung zu den Mitarbeitern wichtig sei. Er kenne jeden mit Namen, seine Geschichte und seine Hobbys. "Neuland", findet die promovierte Wirtschaftspsychologin, seien eigentlich jeder Tag und jede Zeit. Verloren habe sie, die 1979 geboren ist, durch Mauerfall und Einheit gar nichts: "Wir haben ein ganz anderes, aufregendes Leben dazu bekommen". Ohne Mauerfall hätten beide Töchter auch ihre Ehemänner nicht kennengelernt - die sind im Westen aufgewachsen. "Wir fühlen uns nicht ostdeutsch", sagt Christina Kohn.
Von Waren nach New York
"Wir wissen seit 21 Jahren was es heißt, deutsch-deutsche Vereinigung zu leben", sagt auch ihre ältere Schwester Kathrin Rossa, die mit einem Rheinländer verheiratet ist und sich selbst als Norddeutsche bezeichnet. Ihr Mann pendle beruflich weiter nach Düsseldorf, schätze aber auch die Lebensqualität in Waren, erzählt sie. Als die Mauer fiel, war Kathrin Rossa 17 - und froh, nun Neues ausprobieren zu können. Denn Neuland sei für sie auch, etwas Ungewohntes zu tun, ein bislang unbekanntes Gelände zu betreten. So führte sie ein Praktikum während des Studiums gleich Anfang der 90er Jahre nach New York: "Das war immer ein Traum", erzählt sie. Nach vielen Stationen in Deutschland kehrt die studierte Betriebswirtin 2007 in die Heimat nach Waren zurück. Über die Arbeit im Familienunternehmen sagt sie heute: "Es ist wichtig, dass jeder seinen Verantwortungsbereich hat und dort entscheidet - sonst würde es drunter und drüber gehen." Das Wichtigste, was sie von ihrem Vater gelernt habe, sei immer wieder um die Ecke zu denken und nach neuen Lösungen zu suchen.
Arbeit als "Anti-Aging-Programm"
Heute arbeiten und leben Eltern und Töchter nah beieinander. Fast jeden Tag lassen sie beim gemeinsamen Abendessen ausklingen. Er habe nur gewonnen, sagt Günther Neumann 30 Jahre nach der deutschen Einheit: die Freiheit, Dinge zu tun, die man in sich trägt, diese zu vertiefen und auszuprobieren, dazu seine Frau und die Töchter an seiner Seite sowie den Respekt der Mitarbeiter. Die Firma sei für ihn auch ein gutes "Anti-Aging-Programm". Ob die Enkel das Unternehmen einmal weiterführen werden, dürfen die natürlich selbst entscheiden.