"Klein Vielen ist eine neue Heimat"
Zwei Sekunden haben sein Leben verändert: Jürgen Krämer gehört zu denen, die im neuen Mecklenburg-Vorpommern einen neuen Platz für sich gesucht - und zufällig gefunden haben. "Klein Vielen ist eine neue Heimat geworden", sagt der Tischler.
1994 gründet der gebürtige Rheinländer Jürgen Krämer in Berlin-Kreuzberg eine Kunsttischlerei. Erst kurz vor dem Mauerfall im November 1989 war er als damals Endzwanziger aus England zurückgekehrt. Er träumt davon, einen Lagerplatz für alte Hölzer auf dem Land zu finden, so wie er es in England bei seinem Meister kennengelernt hat. Zusammen mit seinem Lebensgefährten fährt er nun auf der Suche nach einer Immobilie durch viele Dörfer und besichtigt heruntergekommene Höfe.
Ein Blinken entscheidet
Am Ende eines frustrierenden Tages 1997 inklusive Autopanne überlegen die beiden, ob sie überhaupt noch zum Besichtigungstermin für eine alte Scheune fahren sollen, der schon seit Stunden verstrichen ist. Zwei Kilometer sind es noch bis nach Klein Vielen, steht auf einem Straßenschild in Peckatel. Zwei Sekunden Zögern, dann wird der Blinker gesetzt. Die verwahrloste Scheune in Klein Vielen ist ein Ungetüm. Asbest-verseucht. Aber der Ausblick mit rotglühend untergehender Sonne über den hügeligen Feldern hinter der Scheune verändert ihr Leben: "Das war einfach Wahnsinn", strahlt Jürgen Krämer.
Ein altes Auto als Vorteil
Der Kauf wird mit einem warmen Bier begossen. Die beiden schlafen anfangs in einem Wohnwagen, Strom leiht der Nachbar. Der freut sich, dass sich jemand der alten Scheune annimmt. Bereits zu LPG-Zeiten in der DDR war sie ungenutzt und doch Treffpunkt für alle im Dorf zur Erntezeit. Ein Auto hat das Paar damals nicht. Mit einem alten geliehenen Wagen mit Potsdamer Kennzeichen kommen sie in das Dorf. Das war schon von Vorteil, erzählt Krämer, nicht mit einem "dicken Mercedes vorzufahren." Ebenso, dass die Alteingesessenen schnell merken: Die Neuen stehen früh auf und arbeiten hart. Sie schleppen Feldsteine, die beim Abriss der Nachbarscheune durch die Treuhand freigelegt werden.
Neue Vereine, um Altes zu bewahren
Bald wird der Wohnwagen als Behausung vom winzigen Trafoturm an der Scheunenwand abgelöst, die Scheune Anfang 2002 abgerissen, ein Haus gebaut, der Garten mit Gewächs- und Bienenhaus angelegt. Der Neubau wird mit den Ziegeln der alten Scheune verklinkert. Bewahren ist Jürgen Krämer wichtig: "Diese Kulturlandschaft ist für mich kostbar". Die Nachbarn, die schon immer in Klein Vielen lebten, erzählen ihm, wie anders das Dorfleben früher war. Die Gaststätte mit Tanzsaal gibt es nicht mehr. "Den Konsum haben wir ja gar nicht mehr erlebt", sagt Krämer. Aber die endgültige Schließung der Schule im Ortsteil Peckatel. Zu DDR-Zeiten war hier die Polytechnische Oberschule (POS) "Otto-Grotewohl", dann nur noch eine Grundschule. Als die Schülerzahlen sinken, ist 2006 ganz Schluss. Vergeblich klagt die Gemeinde gegen die Schließung. Jetzt pendeln die Kinder, eingekauft wird in Waren oder Neustrelitz. Aber: Die Schule ist heute Gemeindezentrum, umgebaut mit EU-Fördermitteln.
Eine Millionen Euro für Jahn-Kapelle
Gemeinsam mit anderen hat Jürgen Krämer Vereine wie Klein Vielen e.V. - Leben zwischen Lieps und Havelquelle oder den Förderverein zur Rekonstruktion der Jahn-Kapelle im Ort gegründet: um beinahe Verlorenes zu schützen und Gemeinsinn wieder aufleben zu lassen. Mit dem Ende der DDR und dem wachsenden Wohlstand ist in den zurückliegenden Jahrzehnten alles viel individueller geworden, meint Krämer. Heute könne sich jeder einfach seinen Rasenmäher selbst kaufen und muss ihn sich nicht mehr vom Nachbarn leihen. Die Menschen fahren mit dem Auto zum Supermarkt oder selbst zum Altglas-Container. So trifft man sich nicht mehr zufällig im Dorf. Und: In den 1990er-Jahren hätten viele Menschen erst einmal ganz andere Sorgen gehabt. Erhaltenswertes erkannten eher Zugezogene. Wie Baudenkmäler. Als Jürgen Krämer damals das erste Mal die Allee zur stark beschädigten Jahn-Kapelle auf einem Hügel am Rande von Klein Vielen entlang gelaufen ist, war er "verzaubert". Der Innenraum sieht damals aus wie im Dornröschenschlaf. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind eine Million Euro Spenden zusammengekommen.