"Da kamen Männer in schwarzen Anzügen"
Inge Bocklage wird nach dem Fall der Mauer zur Geschäftsfrau. Zunächst macht sich die heute 64-Jährige mit einem Gemischtwarenladen in Altwarp selbstständig, 1992 wird sie Geschäftsführerin bei der Insel und Halligreederei, später bekannt unter "Adler-Schiffe". "Manchmal denk' ich, ich bin ein Glückskind. Über Nacht änderten sich die Dinge zum Positiven. Wir haben gewonnen, ohne viel Hintergrundwissen, und haben einfach gemacht."
Was wird aus dem Hafen?
Bereits Ende 1989 werden zwei Grenzpatrouillen-Schiffe der NVA abgezogen, am Hafen selbst ist so 1990 nur noch die Fischereigenossenschaft beheimatet. Durch die Nähe zu Polen wird der nordöstlichste Hafen der neuen Bundesrepublik schon bald zum Objekt der Begierde für viele westdeutsche Unternehmer. Inge Bocklage, damals in der Gemeindevertretung, erinnert sich an "Männer in schwarzen Anzügen mit großen Koffern" zurück, die die wöchentlichen Sitzungen mit dubiosen Geschäftsvorschlägen auf Trab halten. "80 Prozent waren nur Leute, die schnelles Geld machen wollten ohne Rücksicht auf Verluste. Sie erzählten Dinge, die gar nicht stimmten oder drohten direkt mit Anwälten", so Bocklage.
Adler-Reederei erkennt Tourismus-Potenzial
1992 ist es dann die Adler-Reederei, die ihre neue Heimat in Altwarp findet - zunächst mit nur einem Schiff. Die ersten Fahrten ins benachbarte Polen werden für Touristen angeboten. Inge Bocklage ist zu diesem Zeitpunkt gleich doppelte Geschäftsführerin: bei der Adler-Reederei am Standpunkt Altwarp und in ihrem Gemischtwarenladen im Dorf. Dort verkauft sie alles - von Schulblöcken bis hin zu Kleidung. In den Folgejahren wächst die Butterfahrt-Flotte am Hafen heran. Inge Bocklage gibt ihren Laden auf und widmet sich voll und ganz den Adler-Schiffen. Ihr Mann Lothar arbeitet als Kapitän an Bord.
Geldsegen für die kleine Gemeinde
Das Geschäft mit Tagestouristen boomt. Die Zauberformel für den Aufschwung von Altwarp: Duty Free! Inge Bocklage bezeichnet diese Zeit als "Aufbruch". Denn 1996 nehmen die Adler-Schiffe Kurs auf den Hafen im polnischen Nowe Warpno (Neuwarp). Täglich pilgern bis zu 5.000 Menschen zum Hafen, um an Bord zollfrei einkaufen zu können. Nur knapp 15 Minuten dauert die "Butterfahrt", dann geht die Shopping-Tour auf dem polnischen Markt weiter. Dieses lukrative Geschäft spült Geld in die Kasse. Die Adler-Reederei meldet ihr Gewerbe in Altwarp an und beschert der kleinen Gemeinde Steuereinnahmen im sechs- und siebenstelligen Bereich. Beflügelt vom Erfolg entschließt sich die Gemeindevertretung 1996 zum Ausbau des Hafens, der dringend saniert werden muss und zu klein für den Besucheransturm ist. 1999 wird der Hafen um einen Fähranleger im XXL-Format erweitert. Doch er geht nie in Betrieb.
"EU-Beitritt Polens für uns eine Niederlage"
Am 1. Mai 2004 tritt Polen tritt der Europäischen Union bei. Für Inge Bocklage und ihr Adler-Schiffe-Team bedeutete die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft das wirtschaftliche Aus. Das Duty-Free-Geschäft bricht von einem auf den anderen Tag weg, der Anziehungspunkt für Tausende Touristen ist plötzlich verschwunden. Am Vorabend werden die Regale geräumt und etliche LKW beladen. "Viele haben geweint, über 80 Leute haben über Nacht ihren Arbeitsplatz verloren", erinnert sich Bocklage. Einige Jahre probiert sie es noch mit einem Bord-Shop direkt am Hafen. Doch die Gewinne erreichen nie mehr das Niveau aus der Zeit der Butterfahrten. 2010 zieht die Adler-Reederei ihr letztes Schiff ab.
Neuer Versuch: "Lütt Matten"
Doch aufgeben ist für Familie Bocklage keine Option. Auf der Suche nach einer neuen Attraktion für Altwarp stoßen Inge und Lothar Bocklage auf einen alten Krabbenkutter. Wo früher große Dampfer ablegten, startet heute die "Lütt Matten" mehrmals täglich ihre touristischen Rundfahrten auf das Haff - und das schon seit fast zehn Jahren. Mittlerweile hat Familie Bocklage die Flotte erweitert. An Bord des ehemaligen Delegations- und Bereiseungsbootes "Weisse Muschel" können Touristen den Ausblick bei Kaffee und Kuchen genießen. Ansonsten ist das Bild des Hafen geprägt von Wohnmobilen. Am Rande entstehen zahlreiche Ferienwohnungen. Inge Bocklage ist seit 2019 Bürgermeisterin in Altwarp und will einfach weiter machen. Ihr Ziel: Altwarp zurück gewinnen für eine andere Form des Tourismus.