"Es ist Wehmut, die mich überfällt"
Beim Tutower Senf sorgte kanadisches Senfmehl für die nötige Schärfe. Nach der Wende kommen ab 1990 schwere Zeiten auf die Konserven- und Senffabrik zu, doch der Senf überlebt - bis 2020.
"Wenn wir einen Becher aufgemacht haben und der frische Duft in die Nase stieg, dann fingen die Augen an zu tränen", erinnert sich Reimund Pniok. Das Beißen in den Augen war ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Senf wieder gut gelungen war. Für Reimund Pniok war der Tutower Senf etwas Besonderes, stand ganz oben auf der Liste der Produkte, die jahrzehntelang in der Konserven- und Senffabrik Tutow hergestellt wurden. 17 Jahre lang begleitete der ruhige Mann mit der randlosen Brille das Unternehmen.
Kanadisches Senfmehl sorgt für die nötige Schärfe
Es war übrigens kanadisches Senfmehl, das der weit bekannten Würzpaste in der DDR-Zeit die Schärfe verlieh. "Mit Hilfe von Valuta wurde das Senfmehl eingeführt", sagt Diplom-Landwirt Pniok. Einen Mangel daran gab es nie. Der Volkseigene Betrieb (VEB) Nordfrucht hatte immer eine kleine Reserve, damit die Senfproduktion auch durchgehend lief. Gemischt mit dem milden heimischen Senfmehl, Gewürzen, Zucker und Essig entstand der Mostrich, der sich "als Marke aus Tutow mit bester Qualität und hervorragendem Geschmack etablierte", sagt Reimund Pniok.
Tutow war die Eintrittskarte des damals 41-Jährigen ins geregelte Arbeitsleben. Pniok hatte vorher in der Zuckerfabrik Demmin gearbeitet, prangerte an, dass sich der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) zu wenig um die Probleme der Arbeiter kümmerte. Er schickte einen Brief an die "Frankfurter Illustrierte" und sendete Postkarten an den FDGB. Als er aufflog, ging es für ihn sieben Monate ins Stasi-Gefängnis nach Neustrelitz. Anschließend fand er keine Arbeit. "Es war hoffnungslos."
Gemüse oder Kompott: Alles kommt in Glas
Pniok sprach beim Amt für Arbeit im Rat des Kreises Demmin vor. Daraufhin wurde er nach Tutow geschickt. Hier fing er ganz unten als Lagerarbeiter an. Später kam er ins Büro und war im VEB für die Kooperation mit den umliegenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zuständig. Er sorgte dafür, dass Gurken, Rot- und Weißkohl sowie Kirschen geliefert wurden, die als Gemüse oder Kompott ins Glas kamen.
Rund 100 Menschen arbeiteten im VEB Nordfrucht. "Fast jeder Tutower war hier beschäftigt - in der Produktion oder als Saisonkraft." Wo damals Stiegen voller Gurken angeliefert wurden, sprießt heute Unkraut. Die Lager- und Produktionshallen sind marode, Dächer löchrig, Scheiben zersplittert. Lediglich ein Gebäude auf dem weitläufigen Gelände wird von den jetzigen Eigentümern genutzt - als DDR-Museum. Reimund Pniok kann diesen Anblick kaum ertragen. "Wenn ich es heute sehe, ist es Wehmut, die mich überfällt. Es ist schade, dass die Firma dicht gemacht hat."
Die Wende als Zeit der großen Hoffnungen
Dabei war 1990 eine Zeit der großen Hoffnungen. "Die Wiedervereinigung war etwas Einmaliges für mich, ein freudiges Ereignis, ein Gesamtdeutschland. Davon haben wir geträumt, aber dass es wahr wird …" Auf einmal ist vieles möglich. Einige Mitarbeiter der Konserven- und Senffabrik packen ihre Sachen und gehen in den Westen. Andere suchen sich neue Arbeit, die ihnen besser gefällt. Ein Teil bleibt, wie Reimund Pniok. Doch das Unternehmen braucht jetzt Geld, um in der neuen Zeit Fuß zu fassen. Das gelingt nicht sofort. Pniok wird arbeitslos.
Die Treuhand ist in seinen Augen nicht besonders hilfreich. Von der Produktion von Kosmetikartikeln in Tutow ist die Rede. Doch dann kommt die Familie Durach aus Bayern und investiert. Mit moderner Technik und 30 bis 40 Leuten startet die Tutower Fabrik neu durch.
Hamburg, Schwerin, Berlin: Auf allen Messen vertreten
Reimund Pniok ist jetzt verantwortlich für den Einkauf - vom Senfmehl bis zum Gurkenglas geht alles über seinen Tisch. Eine anstrengende Zeit, Pniok zählt die Arbeitsstunden nicht. Konserven und Senf stellen die Tutower auf Messen aus: in Hamburg, in Schwerin, auf der Grünen Woche in Berlin. Ziel ist es, die Produkte über die Grenzen Mecklenburg-Vorpommerns bekannt zu machen, Kontakte zu Handelsketten aufzubauen und so die Produktion im vorpommerschen Tutow zu sichern. "Das war schwer", erinnert sich Pniok.
In Hamburg, Hannover und Berlin ist der Tutower Senf nun zu haben. Doch die Handelsketten drücken von Jahr zu Jahr die Preise. 2002 gerät die Fabrik in die Insolvenz. Für Reimund Pniok der Zeitpunkt, in den Ruhestand zu gehen. Seitdem betrachtet er die Entwicklung von außen. "Es kamen ahnungslose Leiter, die sich bewähren wollten, aber nicht den Erfolg hatten." Wieder steigt eine bayerische Unternehmerfamilie ein. Doch der Investitionsstau in Tutow ist hoch. Die Konservenproduktion unter dem Namen "Peeneland" wandert nach Bayern, wo die Familie bereits Konserven herstellt. 2005 zieht die Senfproduktion nach Stavenhagen um.
Senf ist nun Geschichte
Doch der Umsatz sinkt jährlich um zehn Prozent. Um Kosten zu sparen, stellt das Unternehmen den Senf ab 2017 ebenfalls in Bayern her - verkauft wird er aber nur noch in Mecklenburg-Vorpommern. Alle Versuche, den Senf darüber hinaus listen zu lassen, scheitern. Im Januar 2020 endet die Geschichte des Tutower Senfes - im niederbayerischen Mammingen. Reimund Pniok, heute 76 Jahre alt, macht das traurig. Der scharfe Senf aus Tutow ist nun endgültig Geschichte.