"Bis an den Bodensee haben wir Eisenbahner delegiert"
Der Geruch von erwärmten Ölen und Abgasen, der Anblick des Dampfes, der rechts und links von einer Lokomotive abströmt - schon als Kind ist Siegfried Wegner davon hin und weg. Die Lokomotive sei von Anfang an der Mittelpunkt seiner Wünsche gewesen, erzählt der heute 84-Jährige. Er erinnert sich noch gut, wie die Jugendlichen in Pasewalk an den Schranken standen und sehnsüchtig den vorbeifahrenden Zügen hinterher schauten.
Traumberuf Lokführer
Siegfried Wegners Vater ist Lokführer in Stettin. Im August 1945 geht die Familie nach Pasewalk. Sie beziehen eine Dienstwohnung direkt am Bahnhof. So hat der Sohn seinen Lebenstraum stets vor Augen. Auch er will Lokführer werden. Zielstrebig arbeitet er daran, sich seinen Wunsch zu erfüllen. Er macht eine Lehre zum Schmied und Landmaschinenschlosser und fängt im Bahnbetriebswerk Pasewalk als Lokschlosser an. Er ist 24 Jahre alt, als er zum ersten Mal selbst eine Lok fahren darf.
Mit der E-Lok auf dem neusten Stand
In den 1970er und 80er Jahren erlebt das Bahnbetriebswerk Pasewalk seine Blütezeit. Von dort aus fahren Züge in alle Richtungen. Täglich werden Güterzüge auseinandergenommen und neu sortiert. Die Fahrzeuge werden gewartet und repariert. Mehr als 1.000 Menschen sind bei der Bahn beschäftigt. Jeder dritte Haushalt in Pasewalk hat irgendwie mit der Bahn zu tun. Seit 1988 gibt es in Pasewalk dann E-Lokomotiven, konstruiert von Technikern und Ingenieuren der DDR. Bis zu 36 E-Lokomotiven sind in Pasewalk beheimatet. Damit ist das Bahnbetriebswerk technisch auf dem neuesten Stand. Dann kommt die Wende.
Von der Schiene auf die Straße
Siegfried Wegner leitet damals das Bahnbetriebswerk. Eine Strukturreform soll Deutsche Bahn und Deutsche Reichsbahn zusammenführen. Seine Aufgabe ist es, den Mitarbeitern neue Bestimmungen zu vermitteln. Der Betrieb wird neu organisiert, soll wirtschaftlicher werden. Ein großer Teil des Güterverkehrs verlagert sich von der Schiene auf die Straße. Siegfried Wegner und viele ältere Eisenbahner ärgert das damals sehr: "Wir haben einen Zug mit 2.000 Tonnen Zuckerrüben von Pasewalk nach Anklam mit einer Lok befördert. Auf der anderen Seite mussten 40 Lkw fahren, um diese 2.000 Tonnen zu bewerkstelligen."
Stellenabbau nach 1990
Viele Eisenbahner in Pasewalk werden plötzlich nicht mehr gebraucht. Aufgabe des Betriebsleiters ist es nun auch, junge Leute davon zu überzeugen, nach Westdeutschland zu gehen. "Das war nicht immer einfach", sagt Siegfried Wegner. Viele lassen Pasewalk hinter sich. Sie gehen nach Hamburg, andere nach Süddeutschland. Dort werden sie gesucht. "Bis an den Bodensee haben wir Eisenbahner delegiert", sagt Siegfried Wegner. "Das hat viele Eisenbahner ganz bitter getroffen", erzählt er. Ein Tarifvertrag legt fest, dass Eisenbahner in den Vorruhestand gehen können. Doch sie bekommen nur 62 Prozent ihres früheren Verdienstes. Auch davon soll Siegfried Wegner seine Kollegen überzeugen. "Das war für mich eine sehr, sehr heikle Aufgabe", erinnert er sich. "Familien mit Kindern hatten ohnehin zu knabbern, da unser Lohn wesentlich niedriger war als der der Eisenbahner zur damaligen Zeit in der Bundesrepublik und auch insgesamt". Zum Ende des Jahres 1993 quittiert Siegfried Wegner den Dienst und geht selbst in den Vorruhestand.
Licht aus - und wieder an
Im Jahr 1997 wird das Bahnbetriebswerk Pasewalk aufgelöst. Werkzeuge und Maschinen werden verschrottet, Gleise, die niemand mehr braucht, weggerissen. Nach über 130 Jahren Erfolgsgeschichte geht das Licht aus. Gebäude und Anlagen drohen, zu verrotten. Im Oktober 1997 übernimmt die Kommunalgemeinschaft Pomerania Löcknitz die Immobilie. Schon bald beginnen Projekte der Arbeitsbeschaffung. Jugendliche aus der Region helfen, Waggons und Lokomotiven zu restaurieren. Auch das marode Dach des Lokschuppens wird saniert. Aus dem verlassenen Bahngelände wird ein Eisenbahn-Erlebniszentrum. Im Jahr 2003 gründet sich schließlich der Verein "Lokschuppen Pomerania e.V.", der das Zentrum betreibt.
Eisenbahn-Geschichte für Besucher
Auf insgesamt 6,5 Hektar Fläche ist ein touristisches Highlight entstanden. Gäste erleben die Dauerausstellung, historische Triebfahrzeuge und Waggons. Einige Wagen des ehemaligen DDR-Regierungszuges sind als Herberge eingerichtet worden. Viele Radfahrer und Schulklassen übernachten dort und erleben so ein Stück Eisenbahngeschichte hautnah. Im vergangenen Jahr zählte der Verein mehr als 2.100 Übernachtungen. Der Lokschuppen ist ein beliebter Ort für kulturelle Veranstaltungen. Siegfried Wegner ist der Eisenbahn bis heute tief verbunden. Im Verein "Eisenbahnfreunde Ueckertal e.V." lebt er weiter seine Leidenschaft aus. Gemeinsam mit Gleichgesinnten befasst er sich mit Schienenfahrzeugen aller Art und bewahrt die Erinnerung an die Geschichte der Bahn in Pasewalk.