"Wie schaffen wir es, diese Stadt zu erhalten?"
"Man traut seinen Augen kaum" - in den Worten und der Stimme des ostdeutschen Reporters liegt viel Staunen, als er im Jahr 1990 die Provinz besucht. Denn durch die Kleinstadt Tribsees aus dem Mittelalter, idyllisch an der Trebel gelegen, fährt ein Pferdewagen - allerdings nicht als Touristen-Kutsche. In einigen Straßen hier gibt es noch keine Kanalisation. Der Kübelwagen holt wie jeden Freitag die Fäkalien aus den Straßen ab. Auch viele Häuser der Stadt verfallen und sind trotzdem bewohnt. Der Reporter ist schockiert. Der junge Bürgermeister der Stadt, Lothar Schimmelpfennig, seit Mitte der 80er-Jahre im Amt, sagt ihm damals in die Kamera: "Die Frage ist: Wie schaffen wir es, diese Stadt zu erhalten? Weil sie aus meiner Sicht auch erhaltenswert ist".
Tribsees wird Modellstadt
Drei Jahre später: Wieder besucht ein Kamera-Team den Ort im heutigen Landkreis Vorpommern-Rügen. Und der hat sein Gesicht vollkommen verändert. Tribsees ist jetzt Teil eines Millionen-Förderprogramms, genannt "Modellstadt der Städtebauförderung". Pläne, die zum Teil noch aus der DDR-Zeit stammen, werden nun mit frischem Geld umgesetzt. Straßen können an die Kanalisation angeschlossen und neu gepflastert werden, überall haben Baufirmen Häuser eingerüstet. Die Botschaft: Hier tut sich was. "Alle haben sich gefreut: 'Jetzt geht es los!' - und es war auch zu sehen", erinnert sich Lothar Schimmelpfennig, der nach 1990 noch fast 20 Jahre Bürgermeister bleibt. "Das war einfach eine Sache, wo man mitbekommen hat: Schaffung von blühenden Landschaften." Aber er sagt auch: "Viele Sachen kamen später. Wie überall, wo gearbeitet wird, fallen auch Probleme an."
"Rückgabe vor Entschädigung" als Fehler
Wer Tribsees heute besucht, sieht, dass Millionen hierher geflossen sind - an vielen gut sanierten Straßen und in Pastelltönen gestrichenen Häusern. Doch dazwischen: immer wieder Ruinen. Mitten in der Hauptstraße ist eine Fassade mit einem Bauzaun abgesichert: "Ich sage dazu immer: Das sind die toten Augen von Tribsees", erzählt Schimmelpfennig. Das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" nach 1990 war aus seiner Sicht ein politischer Fehler. Die Eigentümer und ihre Erben hätten verpflichtet werden müssen, in einer gewissen Zeit etwas zu tun, findet er. "Das ärgert mich ungemein." Und noch etwas ärgert ihn: "Wenn immer politisch vollmundig behauptet wird, wir müssen den ländlichen Raum stärken." Aus seiner Sicht ist genau das Gegenteil passiert: Zentralisierung. "Die kleinen Gemeinden und Orte spielen nicht die Rolle, die sie eigentlich verdient hätten. Auch hier leben Menschen, die arbeiten wollen und nicht nur pendeln."
Für Tribsees "wirtschaftlich mehr erhofft"
Lothar Schimmelpfennig sagt, für ihn und seine Frau habe es nie zur Debatte gestanden, ihre Heimatstadt zu verlassen. Aber er erlebt nach 1990 mit, wie Tribsees etwa 1.000 Einwohner verliert. Vor allem die Jungen gehen. Auch von seinen drei Kindern lebt keines mehr hier: "Die kommen auch nicht wieder." Von der wirtschaftlichen Entwicklung habe man sich in Tribsees mehr erhofft, meint er. Viele größere Betriebe in der Region seien von der Treuhand abgewickelt worden, kleinere Unternehmen gründeten sich, verschwanden aber wieder von der Bildfläche. Und obwohl die Stadt direkt an der A20 liegt, sei es kaum möglich, dort Neuansiedlungen hinzubekommen. Auch der Handel in der 2.600-Einwohner-Stadt steht vor Problemen. Es sei eben schwer, hier nur von den Kunden vor Ort zu leben: "Es haben viele angefangen und auch wieder aufgehört."
Der Zusammenhalt ist geblieben
Trotzdem will der 71-Jährige, der fast sein halbes Leben Verantwortung in der Stadt getragen hat, nicht nur das Negative ansprechen. Nach der Altstadt-Sanierung werde er oft gefragt. Dabei geht es nicht allein um schicke Innenstädte. Auch drum herum sei viel passiert: Ein Wohngebiet ist entstanden, ein großes Seniorenheim wurde errichtet und ein modernes Gerätehaus für die Feuerwehr gebaut. Gerade erst ist die Kindertagesstätte für zwei Millionen Euro saniert worden. Lothar Schimmeplfennig sagt im Rückblick auf 30 Jahre Einheit, er habe nach 1990 menschlich viel gewonnen und dazu gelernt, als Bürgermeister neue Kontakte geknüpft. Verloren gegangen seien die Arbeitsplätze - und damit die Unzufriedenheit bei vielen Menschen gekommen. Der Zusammenhalt etwa in Vereinen, findet Schimmelpfennig dagegen, sei geblieben.