Die Günter-Grass-Debatte
Matthias Matussek, Spiegel-Kulturchef und Buchautor
Wut und Empörung, aber auch Verständnis und Zustimmung: Die Reaktionen auf das Eingeständnis von Günter Grass, in der Waffen-SS gewesen zu sein, können kontroverser nicht sein. Martin Walser und Walter Jens verteidigen den Nobelpreisträger. Lech Walesa fordert von Grass die Rückgabe der Ehrenbürgerwürde von Danzig, deutsche Politiker gar die Rückgabe des Literaturnobelpreises.
Fragen an Matthias Matussek, Kulturchef beim Spiegel und Autor des Buches "Wir Deutschen", in dem es um einen "entspannten Patriotismus" geht.
NDR Info: Herr Matussek, was fordern Sie von Günter Grass?
Matthias Matussek: Eigentlich, dass er aufhört, alles zu vermarkten, was mit ihm zu tun hat. Ob es nun das moralische Gewissen der Nation ist oder die Tatsache, dass er der Sünder war. Seine Verstricktheit, die Tatsache, dass er in der SS gewesen ist, dient ja auch in erster Linie dazu, den Verkauf seiner Biographie anzukurbeln. Der Mann geht sehr ökonomisch mit der Wahrheit um. Er wirft sie dann buchstäblich auf den Markt, wenn sie ihm nützt, und er verschweigt sie, wenn es schädlich sein könnte. Was fordere ich von Günter Grass? Wahrscheinlich einfach mal, dass er den Mund hält und uns verschont mit seinen Geschichten.
NDR Info: Das heißt, Sie glauben, das war alles nur ein Promotion-Gag?
Matussek: Nein, ich glaube schon, dass er sozusagen im Herbst seines Lebens sich durchaus noch mal erleichtern wollte. Aber natürlich hat er es sehr kalkuliert gemacht. Also es ist nicht nur ein Promotion-Gag, dass er die Wahrheit beichten wollte, aber wie er sie gebeichtet hat, ist dann tatsächlich ein Promotiongag. Sie müssen überlegen, die Sache ist ja bis in das kleinste i-Tüpfelchen hinein glänzend inszeniert. Und der Mann hat es geschafft, diesem Land wieder einen eigenen Rhythmus aufzuzwängen. Das ganze Land schaut wieder fasziniert auf diese Lichtung, auf der ein paar alte Männer herumstehen und die alten Geschichten erzählen, und schaut wieder auf diese Nazi-Wunde. Das ist alles eine recht fürchterlich grausame Angelegenheit.
NDR Info: Aber wie kommt es denn zu den teils heftigen Reaktionen?
Matussek: Also es gibt eine Empörung und eine Betroffenheitsmaschine, die sozusagen im Autopiloten läuft. Der Empörungskern ist nicht gleich verständlich, auch ich war empört, denn Grass hat ja eine Lebenslüge gelebt. Er hat in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik die Rolle des Gewissens gehabt und war von einer Art absoluter Unerbittlichkeit, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit geht. Er müsste büßen, er müsste bereuen, und die Nation endlich mal zufrieden lassen.
NDR Info: In Ihrem Buch "Wir Deutschen" schreiben Sie, ohne positive Identifikation mit unserer Nation fliegt uns in Zeiten der Globalisierung unser Land um die Ohren. Das heißt, es muss ja auch Vorbilder geben, denen man nacheifern kann. Welche Rolle kann da jetzt Grass überhaupt noch spielen?
Matussek: Platz machen. Er ist kein Vorbild mehr, er war meiner Ansicht nach lange kein Vorbild. Grass war der Anführer der Fraktion "Nie wieder Deutschland". Der Dienst, den er erweisen könnte, ist diesem Land zu sagen: Ich habe mich geirrt. Das Land ist eigentlich okay, ihr seid okay, bitte geht in die Zukunft, und es waren Typen wie ich, die diesem Land einen wesenhaften, richtigen, wahrhaften Diskurs im Wege standen."
NDR Info: Aber Günter Grass scheint ja bei weitem nicht der Einzige zu sein, dem es schwer fällt, über seine Vergangenheit in Nazi-Deutschland zu sprechen. Das scheint viele Zeitzeugen genauso zu betreffen. Woran liegt das?
Matussek: Es gibt diese Doppelleben. Wenn Sie die Geschichte unseres Nachkriegsdeutschlands angucken, waren es immer wieder gerade moralische Feuerköpfe, die gleichzeitig eine eigene Verstrickung zu beichten hatten oder von ihr eingeholt wurden. Es gab auch den Fall Walter Jens zum Beispiel und andere. Wir haben natürlich diese Hypothek, diese sehr schwere Geschichte in die Zukunft zu schleppen. Und es schien so, als ob wir sie nach und nach abwerfen können und zukunftsfähiger werden. Nun werden wir noch mal eingeholt und müssen noch mal diese Runde drehen. Die deutsche Biographie ist eine gebrochen Biographie. Insofern ist Grass kein Einzelfall. Nur die Art und Weise, wie er aus seiner Gebrochenheit immer wieder Kapital schlägt und die Diskussion dominiert, die ist schon relativ unappetitlich.