Sendedatum: 09.02.2006 19:00 Uhr

Erschossen in Moskau

von Christiane Blume

Monate nach der Verhaftung werden die Angeklagten vor das sowjetische Militärtribunal in Schwerin geführt. "Das Militärtribunal muss man sich als eine Art Inquisitionsgericht vorstellen", sagt Jörg Rudolph. Verteidiger im Sinne von ausgebildeten Rechtsanwälten oder Zeugen, die zu einer Entlastung führen, sind nicht zugelassen. Meistens dauern die Prozesse nur zwei Tage. Wie Hunderte andere werden Arno Franke und Gerhard Priesemann wegen angeblicher Spionage zum Tode verurteilt. Nur Eduard Lindhammer hat Glück im Unglück: Der Richter spricht nicht das Todesurteil aus, sondern verurteilt ihn zu 25 Jahren Arbeitslager in Sibirien. 1956 darf er vorzeitig in die DDR zurückkehren.

Gerhard Priesemann, kurz vor seiner Hinrichtung. © Familie Priesemann Foto: Privat
Gerhard Priesemann war einer der Deportierten aus der DDR, die in Moskau erschossen wurden.

Die Todeskandidaten wie Arno Franke und Gerhard Priesemann werden nach Moskau deportiert. Etwa drei Monate verbringen sie in dem berüchtigten Moskauer Gefängnis Botyrka, bis sie eines Nachts in einen dunklen, schmutzigen Keller gebracht und erschossen werden. Ihre Leichen werden eingeäschert und in einem Massengrab auf dem Donskoje-Friedhof verscharrt.

Familien werden vertröstet und belogen

Warum der Vater, die Mutter, die Tochter, der Sohn verhaftet wurden, wo sie waren, ob sie wiederkommen werden - die Angehörigen erfahren es nicht. Immer wieder fragen sie nach bei Polizeidienststellen, bei Kirchen, sowjetischen Dienststellen, Parteifunktionären - immer wieder werden sie vertröstet und belogen. 1959 erhält Frau Priesemann eine Todesurkunde ihres Mannes, datiert auf den 14. Mai 1953, obwohl er bereits am 14. Mai 1951 erschossen wurde. Die falsche Jahreszahl ist eine übliche Verschleierungspraxis der DDR-Behörden. Mehr als vierzig Jahre lang kennen die Familien die genauen Umstände des Verschwindens ihrer Angehörigen nicht, ist Trauern und Abschiednehmen für sie nicht möglich.

Aufarbeitung der Fälle erst nach der Wende

Erst im Zuge der Wende bekommen die Angehörigen ab den Neunzigerjahren nach und nach Antworten auf ihre Fragen. 1996 erhält Familie Franke ein Schreiben vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Nun wissen sie, wann und wo der Vater erschossen wurde. Fünf Jahre später begegnen sie einem ehemaligen Mithäftling des Vaters. Dieser erzählt ihnen von der gemeinsamen Haft am Demmlerplatz. 2004 trifft sich Christoph Priesemann mit anderen Hinterbliebenen in Potsdam. Dort sieht er das letzte Foto seines Vaters: Aufgenommen kurz vor der Hinrichtung in Moskau, zeigt das Bild einen kahl geschorenen, gebrochenen Mann.

Seit den Neunzigerjahren können bei der russischen Militärstaatsanwaltschaft Rehabilitierungen beantragt werden. Etwa zwei Drittel der Familien haben die Bestätigung erhalten, dass das Todesurteil unrecht war - für viele eine Genugtuung. Auch für Jürgen Franke: "Weil vielleicht doch viele überzeugte DDR-Bürger denken, da muss ja was gewesen sein, irgendwas wird ja gewesen sein. Die können den ja nicht einfach abgeholt haben. Die haben bestimmt was am Stecken gehabt haben. Und jetzt kann man widerlegen, dass es nicht so war." Auch Eduard Lindhammer wird 1997 rehabilitiert, wenn auch gegen seinen Willen - er lehnt es ab, frei gesprochen zu werden von Leuten, die im KGB groß geworden sind: "Als ob sie das Recht hätten, darüber zu urteilen, ob man sich strafbar gemacht hat oder nicht", sagt er.

Die 927 Namen der deutschen Opfer sind heute bekannt. Sie stehen auf dem Gedenkstein, der 2005 auf dem Massengrab 3 des Donskoje-Friedhofs eingeweiht wurde - ein erster Schritt zu einer Gedenkkultur des Stalinismus.

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Erschossen in Moskau - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (94 KB)

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 09.02.2006 | 19:00 Uhr

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