Wilhelm Pieck (rechts) im Gespräch mit Otto Grotewohl während einer Konferenzpause auf dem Vereinigungsparteitag von SPD und KPD im Admiralspalast in Ostberlin, 21./22.April 1946 © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images

Zeitzeuge zur SED-Gründung: "Ich glaubte an die Demokratie"

Sendedatum: 07.04.2006 19:00 Uhr

1946 werden KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone zur SED zwangsvereint, der Handschlag von KPD-Mann Wilhelm Pieck und SPD-Politiker Otto Grotewohl zum Symbol. Hans Marquardt bleibt seiner sozialdemokratischen Überzeugung treu - und wird verhaftet.

"Ein alter Traum ist Wirklichkeit geworden: die Einheit der deutschen Arbeiterklasse!", ruft der Sozialdemokrat Otto Grotewohl unter dem Jubel der Delegierten. Am 21. und 22. April 1946 findet in Ost-Berlin die Vereinigung von SPD und KPD zur SED statt. Feierlich reichen sich Otto Grotewohl und der Kommunist Wilhelm Pieck die Hände. Dabei war Otto Grotewohl noch bis vor kurzem Gegner dieser Einheit gewesen - und mit ihm zahlreiche weitere SPD-Mitglieder. Doch nach dem Stalin-Erlass, der die Vereinigung beider Parteien in der sowjetischen Zone bis zum 1. Mai 1946 befiehlt, bleibt den ostdeutschen Sozialdemokraten kaum eine andere Wahl.

"Beide Parteien schienen das Gleiche zu wollen"

An der Parteibasis haben viele SPD-Genossen auch ganz andere Sorgen in dieser Zeit. Sie müssen ihre Existenz sichern, ihr Leben neu sortieren. So wie Hans Marquardt, Flüchtlingsjunge aus Stettin. Der 18-Jährige, der im Februar 1946 der SPD beigetreten ist, lässt sich in Ralswiek auf Rügen zum Lehrer ausbilden. Über die Partei-Fusion macht er sich zunächst wenig Gedanken. Ohnehin scheinen beide Parteien fast das Gleiche zu wollen, glaubt er damals. "Darum haben wir da mitgemacht, nicht sehr fröhlich allerdings", erinnert er sich. "Wir hatten nur so ein komisches Gefühl damals, so etwas wie ein schlechtes Gewissen." Durch die Vereinigung der Parteien wird Hans Marquardt zum SED-Mitglied.

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Kommunist Wilhelm Pieck (l.) und Sozialdemokrat Otto Grotewohl besiegeln die Vereinigung von SPD und KPD am 22. April 1946 im Berliner Admiralspalast per Händedruck. © picture-alliance / akg-images Foto: akg-images

Zwischen Zwang und Hoffnung: Die Gründung der SED

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Probleme für Bürger mit sozialdemokratischer Gesinnung

Ende der 1940er-Jahre wird mehr und mehr deutlich: Wer an seiner sozialdemokratischen Gesinnung weiterhin festhält, wird in der neu gegründeten DDR Probleme kriegen. Es ist dies die Zeit, in der viele Sozialdemokraten die Koffer packen und gen Westen ziehen. Hans Marquardt entschließt sich zu bleiben. Auf Wunsch des Schulrats zieht er nach Stralsund, um dort Russisch zu lernen, das zum neuen Unterrichtsfach wird. Weiterhin unterrichtet er in Ralswiek. Zudem darf er ein Studium an der Universität Greifswald aufnehmen. "Ich glaubte an eine Karriere hier, ich glaubte der Propaganda in Sachen Demokratie, ich hatte noch lange nicht begriffen, dass man längst dabei war, hier mit uns eine Diktatur zu errichten", sagt er.

Alles scheint normal, bis er an der Uni einen Jugendfreund aus Stettin trifft. Dieser vertraut ihm an, dass er ihn im Auftrag der Partei beobachten solle, weil er als "politisch unzuverlässig" gelte. Hans Marquardt ist darüber nicht wirklich verwundert: "Ich habe mich nicht immer sehr zurückhaltend geäußert, im Kreise von Vertrauten mit meiner Meinung nicht immer hinter dem Berg gehalten. Ich hatte wohl so etwas, was Außenstehende eine 'sozialdemokratische Meinung' nannten", sagt er. Große Sorgen macht er sich nicht. Auch nicht, als er zum Parteivorstand der SED an der Universität vorgeladen wird. Er gelte als unzuverlässig, heißt es auch hier. Er habe eine zu große Klappe. Er solle sich mal bewähren für die Demokratie. Seine "Bewährungsprobe": Er soll für ein halbes Jahr als Bergmann in Aue im Erzgebirge arbeiten.

Festnahme unter einem Vorwand

Nachdem das halbe Jahr vorbei ist, will Hans Marquardt heiraten und weiterstudieren. Er gibt seine Privatpapiere seinem Vorgesetzten in Verwahrung - Papiere, auf denen auch politische Witze notiert sind. Der Vorgesetzte reicht die Unterlagen an die Parteileitung weiter. Den Grund hierfür erfährt Hans Marquardt erst viel später, aus seiner Stasi-Akte: Der Vorgesetzte wollte die Frau haben, mit der er selbst verlobt war.

Am 12. Januar 1951 geht Hans Marquardt zum Standesamt. Dort will er seine Braut treffen - doch sie kommt nicht. Wie benebelt geht er durch die Straßen, Richtung Kirche. "Der Pastor kommt auf mich zu, nimmt mich zur Seite und sagt zu mir: 'Gott wollte es nicht.' Sie mögen das heute komisch finden, aber da wusste ich Bescheid. 'Gott wollte es nicht.' Das reichte als Erklärung", sagt er. Er stolpert zurück zum Bergarbeiterheim. "Du sollst verhaftet werden!", ruft ihm ein Kumpel zu. Hans Marquardt reagiert rasch: Er steigt in einen Bus, er will ins Erzgebirge, zu seiner Tante, die während des Krieges eine Jüdin versteckt hatte. Doch auf dem Weg dorthin wird er von zwei Männern festgenommen: Er sei des Schwarzhandels verdächtig. "Du kannst also ruhig mitgehen, denke ich, es ist ein Irrtum", erinnert sich Hans Marquardt.

Marquardts erste Flucht scheitert

Blick aus einem Fenster der ehemaligen Stasi-Haftanstalt Bautzen II auf den Innenhof © picture-alliance/dpa/ZB Foto: Matthias Hiekel
Blick aus einem Fenster einer ehemaligen Stasi-Haftanstalt.

Es ist kein Irrtum. Hans Marquardt wird in die Auer Villa der gerade gegründeten Staatssicherheit gebracht. Strenge Sicherheitsvorkehrungen existieren noch nicht. Durch das Fenster der Toilette gelingt ihm die Flucht. Per Anhalter und zu Fuß schlägt er sich durch bis ins Erzgebirge. In der Nacht betritt er in einem Dorf eine Gaststätte und setzt sich zu den Bergarbeitern. Kurz darauf stehen Polizisten vor der Tür. Sie fesseln Hans Marquardt an Händen und Füßen und bringen ihn nach Chemnitz, zur Staatssicherheit. Wochenlang bleiben die Fesseln an den Handgelenken. "Für die war ich jetzt ein richtiger Verbrecher, mit meiner Flucht hatte ich mich erst recht verdächtig gemacht", erzählt er.

Acht Jahre im Gefängnis

In Chemnitz wird er in eine winzige Zelle gesteckt. "Man ließ mich nicht raus zum Urinieren, ich habe dann in meine Tasse gepinkelt und die aus dem Fenster entleert", erinnert er sich. Mehrere Male wird er verprügelt, mit langen Stangen geschlagen - vor allem, als er sich weigert, das polizeiliche Vernehmungs- und Schlussprotokoll zu unterschreiben, das voller Lügen ist. Zur Strafe wird er in eine Arrestzelle gesperrt. "Das ist eine ganz kleine Zelle, keinen Quadratmeter groß. Da steht man dann, nur in Unterhose, in dieser Zelle, und sie kippen Wasser rein auf den Kiesboden. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Zelle war. Zum Schluss hatte ich ganz dicke Geschwüre an den Armen."

Am 7. Januar 1952 verurteilt die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Zwickau Hans Marquardt "wegen Boykotthetze, Kriegshetze, Bekundung von Völkerhaß sowie wegen Friedensgefährdung durch Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte" zu acht Jahren Zuchthaus. Sechs Jahre verbringt er in den Zuchthäusern von Zwickau, Waldheim und Torgau. "Ich habe immer wieder gebetet - ob man das nun fromm nennt oder nicht, das ist mir egal; ich habe gebetet: 'Also, lieber Gott, wenn du mich jetzt nicht mehr leben lassen willst, dann lass mich schnell sterben. Aber wenn du willst, dass ich am Leben bleibe, dann gib mir gefälligst auch die Kraft dazu!'", erzählt er.

Nach der Haft flüchtet Marquardt in den Westen

Die Kräfte reichen. Am 31. Oktober 1956 wird Hans Marquardt entlassen. Wenig später flüchtet er in den Westen. Noch Jahrzehnte später hat er schreckliche Angst davor, fremden Menschen zu schildern, was er erlebt hat - auch in der Bundesrepublik. Diffus sei diese Angst gewesen, sagt er heute: Da hätte ja irgendjemand zuhören können, und der hätte es dann an die Staatssicherheit weitergeben können, und wer weiß, was dann geschehen wäre.

Erst mit der Wende wird Hans Marquardt rehabilitiert: Am 24. Juli 1991 wird das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 7. Januar 1952 durch das Bezirksgericht Leipzig offiziell aufgehoben. Zur Begründung heißt es: "Nach dem Inhalt der Strafakten besteht kein Zweifel, dass der Antragsteller nur deshalb strafrechtlich verfolgt wurde, weil er nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD von seiner sozialdemokratischen Grundüberzeugung nicht abgewichen ist und diese in der politischen Diskussion vertreten hat." Und seine Partei, die SPD? Sie hat Hans Marquardt inzwischen mit dem goldenen Parteiabzeichen geehrt für seine langjährige Mitgliedschaft seit dem 1. Februar 1946 - die langen Jahre der Haft zählen mit.

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"Ich glaubte an die Demokratie" - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (215 KB)

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 07.04.2006 | 19:00 Uhr

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