Wahl-Krimi im Niedersächsischen Landtag
Absprachen, Probeabstimmungen: Es ist alles gut vorbereitet, Routine, doch es wird ein Debakel und eine politische Sensation. Mitten in der Legislaturperiode scheitern SPD und FDP am 14. Januar 1976 im Niedersächsischen Landtag bei der Abstimmung über einen neuen Ministerpräsidenten.
Rückblick: 1976 regiert in Niedersachsen eine sozialliberale Koalition unter Ministerpräsident Alfred Kubel. Der Sozialdemokrat will zur Hälfte der Legislaturperiode sein Amt aufgeben - aus Altersgründen. Als Nachfolger steht Helmut Kasimier bereit, ebenfalls SPD und bisher Finanzminister. Die Wahl des neuen Regierungschefs ist für den 14. Januar geplant, einen Mittwoch. SPD und FDP verfügen zusammen nur über einen Sitz mehr als die CDU-Opposition: 78 zu 77. Dennoch gibt es nach zwei Jahren gemeinsamer Regierungsarbeit keinen begründeten Zweifel an der Stabilität der Koalition, Probeabstimmungen bestätigten das.
CDU stellt Ernst Albrecht auf
Für die Wahl des Ministerpräsidenten nominiert die CDU einen Gegenkandidaten: Den jungen Ernst Albrecht, den die Partei für die Landtagswahl 1978 als Spitzenkandidat aufbauen will. Als das Ergebnis der geheimen Abstimmung verkündet wird, gibt es viele verblüffte Gesichter - Helmut Kasimier 75 Stimmen, Ernst Albrecht 77 Stimmen, drei Wahlzettel sind ungültig. Damit erreicht kein Kandidat die notwendige absolute Mehrheit von 78 Stimmen. Die Wahl muss am nächsten Tag wiederholt werden.
Albrecht holt Stimme aus der Koalition
Hinter den Kulissen stimmt die SPD-Fraktion erneut zur Probe ab und steht dabei geschlossen zu ihrem Kandidaten Kasimier. In der geheimen Wahl am 15. Januar fällt er jedoch wieder durch und kommt nur noch auf 74 Stimmen. CDU-Bewerber Albrecht erhält eine Stimme mehr: 78. Damit muss mindestens ein Abgeordneter aus der Regierungskoalition für Albrecht gestimmt haben. Erneut sind drei Stimmen ungültig. Albrecht holt damit die absolute Mehrheit und kann nun innerhalb von 21 Tagen dem Landtag ein Kabinett präsentieren. Er lässt die Frist jedoch verstreichen, denn er will in der notwendigen offenen Abstimmung über seine Minister keine Niederlage riskieren.
SPD tritt mit neuem Kandidaten an
Es folgt ein dritter Wahlgang, der für den 6. Februar angesetzt wird. Die SPD wechselt ihren Ministerpräsidenten-Kandidaten aus und holt Karl Ravens nach Hannover. Der gebürtige Niedersachse arbeitet zu dieser Zeit in Bonn als Bundesminister für Städtebau im Kabinett von Kanzler Helmut Schmidt. Doch auch Ravens kann die Abstimmung nicht gewinnen. Er unterliegt Albrecht mit 75 zu 79 Stimmen. Die Überraschung ist perfekt. Wer aus der SPD/FDP-Koalition für Albrecht gestimmt hat, bleibt trotz vieler Spekulationen bis heute unbekannt.
Erster CDU-Ministerpräsident im Land
Ernst Albrecht benötigt laut Wahlrecht nun keine weitere Abstimmung, um eine Landesregierung zu bilden. Er ist der erste Ministerpräsident Niedersachsens, den die CDU stellt. Eine Mehrheit im Parlament hat Albrecht allerdings nicht. Erst knapp ein Jahr später, im Januar 1977, steigt die FDP aus der Koalition mit den Sozialdemokraten aus und geht ein Bündnis mit der CDU ein. Bei der Landtagswahl 1978 kommen die Christdemokraten auf 48,7 Prozent der Stimmen und gewinnen die absolute Mehrheit der Mandate. Die FDP scheitert an der Fünf-Prozent-Hürde. Albrecht bleibt Ministerpräsident und verteidigt das Amt auch bei den nächsten Wahlen. Erst im Mai 1990 verlieren CDU und FDP die Landtagswahl gegen SPD und Grüne. Gerhard Schröder löst Albrecht nach 14 Jahren im Amt ab.
Engagement in den neuen Ländern
Nach seiner Wahlniederlage zieht sich Albrecht aus der Landespolitik zurück. Er engagiert sich beim wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Albrecht übernimmt den Aufsichtsratsvorsitz der maroden Eisenhüttenwerke in Thale (Sachsen-Anhalt) und erwirbt das Unternehmen 1993 zum symbolischen Preis von einem Euro.
Landesvater mit Familiensinn
Obwohl der promovierte Wirtschaftswissenschaftler seine Karriere bei der EG-Kommission in Brüssel begann, zeigte er sich stets dem Land Niedersachsen verbunden. Als Vater von sieben Kindern - darunter der späteren Bundesministerin Ursula von der Leyen - galt er als Politiker mit Familiensinn. 2010 feierte Albrecht seinen 80. Geburtstag.
Am 13. Dezember 2014 starb Ernst Albrecht nach langer Alzheimer-Krankheit im Alter von 84 Jahren auf dem Familiengut in Burgdorf-Beinhorn. Bei einem Staatsakt im Landtag würdigten Bundes- und Landespolitiker den Verstorbenen. Landtagspräsident Bernd Busemann sagte, als überzeugter Parlamentarier mit dem christlichen und sozialen Gewissen "eines liberalen Konservativen" habe Albrecht in seiner 14-jährigen Amtszeit das Land geprägt wie kaum ein anderer.
- Teil 1: Die Abstimmung im Landtag
- Teil 2: Von Gorleben bis Spielbankenaffäre: Stationen der Ära Albrecht