Tödliche Zivilcourage: Der Fall Dominik Brunner und die Folgen

Stand: 12.09.2024 00:00 Uhr

Am 12. September 2009 will Dominik Brunner am S-Bahnhof Solln in München eine Gruppe Schüler beschützen - und stirbt. Er wird zum unfreiwilligen Helden der Nation, sein Name bundesweit zum Symbol für Zivilcourage.

von Stefanie Grossmann

Hamburg, Berlin oder andere Städte: Immer wieder sind Bahnhöfe Schauplätze brutaler Übergriffe. Was sich an diesem Tag am S-Bahnhof im Münchener Stadtteil Solln ereignet, dauert nur wenige Minuten - doch auch noch viele Jahre später bewegt der Fall Dominik Brunner Gesellschaft und Angehörige. Er hat nicht nur die Debatte über die Zunahme jugendlicher Gewalt im Alltag und eine Verschärfung des Jugendstrafrechts befeuert. Er zeigt auch, wie schmal der Grat zwischen Mut und Risiko sein kann, wenn es darum geht, Zivilcourage zu zeigen. Und er erzählt von einem Menschen, der ungewollt berühmt geworden ist - eine moderne Heldengeschichte ohne Happy End für alle Betroffenen.

Wer war Dominik Brunner?

Ein Straßenschild mit der Bezeichnung "Dominik-Brunner-Weg". © picture-alliance/dpa Foto: Frank Leonhardt
Dominik Brunner werden nach seinem Tod viele Ehrungen zuteil - in Solln wird 2010 ein Weg nach ihm benannt.

Der studierte Jurist Dominik Brunner arbeitet ab Mitte der 1990er-Jahre als Manager für einen Hersteller von Dachziegeln. Er schwimmt gerne, ist ein begeisterter Cineast, guter Freund und Vertrauter: "Ich konnte mich auf ihn verlassen wie auf einen Bruder", sagt sein Freund Claus Girnghuber rückblickend in der NDR Dokumentation "Die Narbe - Der Fall Brunner". Er habe immer einen Schalk im Nacken gehabt, beschreibt ihn seine ehemalige Partnerin Petra Pohlmeyer. Auch nach ihrer Trennung bleibt die Freundschaft bestehen. Brunner sei es wichtig gewesen, voneinander zu wissen, wie es laufe, so Pohlmeyer: "Das war schon besonders an ihm." Seine Freunde bescheinigen ihm außerdem ein "starkes Gerechtigkeitsempfinden".

Eskalation am S-Bahnsteig Solln mit Tritten und Schlägen

Ein Schild mit der Aufschrift "Dominik Brunner, gestorben am 12. September 2009" ist am Rande der Gedenkveranstaltung anlässlich des 10. Todestages von Dominik Brunner am Bahnsteig in Solln zu sehen. © picture-alliance/dpa Foto: Matthias Balk
Zehn Jahre nach Dominik Brunners Tod findet eine Gedenkveranstaltung am Tatort in Solln statt. Eine Tafel erinnert an den Verstorbenen.

Am Samstagnachmittag des 12. September 2009 macht sich der 50-Jährige auf den Heimweg. In der S-Bahn wird er zufällig Zeuge, wie drei Jugendliche vier Schülerinnen und Schüler "abziehen" wollen. Sie fordern Geld von den Gymnasiasten und drohen ihnen Schläge an. Anders als die anderen Fahrgäste interveniert Dominik Brunner. Er alarmiert die Polizei und bietet der Schülergruppe an, mit ihr in Solln auszusteigen. Zwei der Jugendlichen folgen Dominik Brunner und der Gruppe. Auf dem Bahnsteig eskaliert die Situation, es kommt zu einer Schlägerei, bei der Brunner zu Boden geht. Die beiden vorbestraften 17- und 18-Jährigen traktieren ihn mit Faustschlägen und Tritten, auch gegen den Kopf. Zwei Stunden später stirbt Dominik Brunner im Klinikum Großhadern.

Für die "Bild" ist Dominik Brunner der "S-Bahn-Held"

Besucher der Kundgebung der Dominik-Brunner-Stiftung halten am Sonntag (20.12.2009) auf dem Odeonsplatz in München (Oberbayern) Herzen mit dem Aufdruck "Nimm dein Herz in die Hand" in die Höhe. © picture-alliance/dpa Foto: Frank Leonhardt
Große Anteilnahme: Prominente und Öffentlichkeit setzen immer wieder Zeichen, Zivilcourage zu zeigen.

Für die Medien, allen voran der Boulevardpresse um die "Bild"-Zeitung, ist der dramatische Tod von Dominik Brunner ein gefundenes Fressen. Sie stilisieren den unbescholtenen Mitbürger zum "S-Bahn-Helden", schlachten jedes Detail schonungslos aus. Auch die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen konstatiert: "Er wurde als das leuchtende Beispiel eines Helden verkauft." Ein ganzes Land trauert öffentlich. "Wir müssen ein Zeichen setzen": Prominente wie Uli Hoeneß würdigen den Verstorbenen. Das könne uns jederzeit auch passieren und dann wären wir froh, wenn jemand wie Dominik Brunner helfen würde, so der ehemalige Präsident von Bayern München damals. Wenige Tage nach Brunners Tod initiiert Hoeneß bei einem Fußballspiel in der Arena eine Schweigeminute.

"Er war ja unser Freund, der einfach gestorben ist"

Anders die Angehörigen - für sie wird ein privater Verlust zum öffentlichen Ereignis. "Wir wussten nicht damit umzugehen, wollten das im Grunde auch gar nicht", beschreibt Claus Girnghuber die Gemütslage. "Das war ja unser Freund, der einfach gestorben ist." Familie und Freunde versuchen zu begreifen, was passiert ist, trauern im Privaten - und geben den Medien keine Interviews. "Ich glaube auch nicht, dass er als Held bezeichnet werden wollte. Das wäre nicht seine Art gewesen, sich so darzustellen, sagt Ex-Partnerin Petra Pohlmeyer.

Prozess offenbart Widersprüche und Zweifel

Der Angeklagte Markus S. (Mitte hinten) steht am Montag (06.09.2010) in München (Oberbayern) vor der Urteilsverkündung an der Anklagebank des Landgerichts neben seinen Anwälten Maximilian Pauls (2.v.l.) und Hermann Saettler (l). Links sitzt der Angeklagte Sebastian L. mit seinen Anwälten Jochen Ringler (r) und Roland Autenrieth (2.v.r.). © picture-alliance/dpa Foto: Peter Kneffel
Der Prozess im Fall Brunner bekommt viel Aufmerksamkeit. Für die Verteidigung sei es extrem schwierig gewesen, "an diesem Helden-Sockel zu kratzen", so Anwalt Roland Autenrieth.

Zehn Monate nach dem Tod von Dominik Brunner beginnt der Prozess gegen die beiden Täter. Das Interesse ist riesengroß und für die Öffentlichkeit ist klar: Markus S. und Sebastian L. sind schuldig, ihr Opfer ein Held. Doch während des Verfahrens, das den Vorfall minutiös nachzeichnet, tauchen mehr und mehr Zweifel und widersprüchliche Aussagen von mehr als 50 Zeugen auf - Tat und Tathergang sind komplexer als zunächst angenommen und die Rekonstruktion ist nicht einfach. Je länger sie den Prozess verfolgt habe, desto mehr habe sie an dieser Helden-Version erhebliche Zweifel gehabt, sagt Gisela Friedrichsen.

Der Prozess taucht den Menschen Dominik Brunner in ein neues Licht. Hat er die Täter etwa provoziert und sogar als erstes zugeschlagen? "Was mich tierisch genervt hat, ist die Diskussion 'erster Schlag - nicht erster Schlag'", erzählt Charly Weinberger, ein Freund des Opfers. Der S-Bahn-Fahrer etwa, der als Zeuge auftritt, sieht in Dominik Brunner den Angreifer. Einige der Schüler sagen aus, dass Brunner den Angriff durch einen Schlag abwehren wollte. "Die Beweisaufnahme bisher hat ergeben, dass der Herr Brunner - möcht mal sagen - die Konfrontation hier gesucht hat und nicht die Deeskalation", beschreibt Verteidiger Roland Autenrieth seine Sichtweise.

Nicht die Verletzungen führten zum Tod

"I nimm oan mit", "Einen nehm ich mit", einmal, zweimal, dann wieder: "I nimm oan mit!" Und noch einmal: "I nimm oan mit!" Dazwischen einer der Täter: "Komm her, Mann, du Dreckschwein! Du Sau!" Handyaufzeichnung von mit der Stimme Dominik Brunner

Dieser Mitschnitt stammt von Dominik Brunners Handy, das er bei der Auseinandersetzung angeschaltet am Körper trägt. Die Tonqualität ist schlecht. Im Prozess kommt außerdem heraus, dass Dominik Brunner nicht an den 22 schweren und schwersten Verletzungen durch Tritte und Schläge verstorben ist, sondern an Herzversagen.

Dominik "Nick" Brunner habe kein Held sein wollen

Aus dem Helden von Solln wird plötzlich ein Mann, der fahrlässig gehandelt haben soll. Seine Freunde sagen: Er sei kein Mensch gewesen, der Schlägereien provoziert. Mit der öffentlichen Diskussion hadern sie deshalb. "Er wollte nie so toll sein ... er war ein ganz normaler Mensch", so Petra Pohlmeyer. Und sein bester Freund Claus Girnghuber sagt: "Der Nick war niemand, der auf einen Sockel gestellt werden wollte, der war immer einer von uns. Er war sicher ein Vorbild, aber Held wollte er keiner sein."

Verurteilung wegen Mordes oder Totschlag?

Die beiden Täter werden wegen Mordes angeklagt. Für die Staatsanwaltschaft ist es unerheblich, dass Dominik Brunner zuerst zugeschlagen hat. Ein medizinisches Gutachten besagt, dass Brunners Herzflimmern durch extremen Stress in Folge der Schläge und Tritte ausgelöst wurde. Die Verteidiger üben während des Verfahrens indes immer wieder Kritik an der medialen Vorverurteilung ihrer Mandanten: "Auch Menschen, die eine schwere Straftat begehen, verdienen einen fairen Prozess", bekräftigt Roland Autenrieth. Sie plädieren für eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge, allenfalls versuchtem Totschlag.

Haupttäter Markus S. kommt wegen Mordes in Haft

Doch das Gericht folgt bei seinem Urteil den Anklagepunkten der Staatsanwaltschaft. Es bewertet den Erstschlag Brunners als "zweifelsfrei von Notwehr gedeckt". Wie gefährlich Tritte gegen den Kopf sein können, ist hinlänglich bekannt. Daniel Heinke hat für seine Doktorarbeit an der Uni Bremen 2009 800 junge Frauen und Männer zur Gefährlichkeit von Gewalttaten befragt - ein Drittel erklärte, dass es den Tod des Opfers als wahrscheinliche Folge solcher Angriffe erwarte. Diesem Ansatz folgt auch der Münchener Richter Reinhold Baier in seiner Urteilsbegründung: Als Markus S. zutrat, sei ihm bewusst gewesen, dass Dominik Brunner sich nicht mehr wehren konnte und nahm tödliche Folgen in Kauf.

Die Täter werden nach Jugendstrafrecht verurteilt, Haupttäter Markus S. erhält wegen Mordes und versuchter räuberischer Erpressung eine Freiheitsstrafe von neun Jahren und zehn Monaten. Mittäter Sebastian L. muss wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung sieben Jahre in Haft.

Fall Brunner ein Musterbeispiel für Vorverurteilung?

Aus Sicht von Gisela Friedrichsen müsse man über die Geschehnisse nochmal sprechen. Sie verfolgt den Fall damals für den "Spiegel". Er sei ein Musterbeispiel dafür gewesen, "wie schnell manchmal geurteilt wird über ein Vorkommnis, eher man überhaupt weiß, was im Einzelnen geschehen ist." Besonders das Urteil gegen den reuigen Sebastian L. hält sie für zu hart. In vergleichbaren Fällen würden Angeklagte "mit höchstens zwei bis vier Jahren Freiheitsentzug bestraft." Darüber hinaus kritisiert sie die "irrationale Angst" vor jugendlichen Intensivtätern. Das seien beide aufgrund ihrer geringen Vorstrafen nicht gewesen, schreibt sie im "Spiegel" über das Urteil.

Friedrichsen bestreitet nicht, dass Dominik Brunner sehr guten Willens war, gleichwohl habe er falsch gehandelt. "Und auch das, finde ich, gehört zu der Wahrheit dazu. Dass man das dann auch so darstellt."

Dominik Brunner Stiftung will zu Zivilcourage ermutigen

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) steht am Sonntag (12.09.2010) neben dem Denkmal für Zivilcourage in Ergoldsbach (Landkreis Landshut, Niederbayern) vor dem Dominik-Brunner-Haus. © picture-alliance/dpa Foto: Peter Kneffel
In Brunners Heimatdorf Ergoldsbach wurde ein Kindergarten in "Dominik-Brunner-Haus" umbenannt. Davor eine Skulptur mit einer Person, die ein Kind beschützt.

Auch die Angehörigen sehen den Fall durchaus differenziert. Sie gründen eine Stiftung für Zivilcourage. Die Dominik Brunner Stiftung möchte Menschen ermutigen, in Notsituationen zivilcouragiert einzugreifen. Allerdings immer unter der Voraussetzung, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Mitbegründer Claus Girnghuber findet Zivilcourage wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft - und sie sei erlernbar. Dominik Brunner hilft das nicht mehr - "er es hätte anders machen sollen", erläutert Girnhuber, sich Unterstützer suchen sollen. Das ist einer der wichtigsten Tipps der Stiftung. "Wenn er mit noch zwei Leuten zu dritt gewesen wäre, dann wäre es nicht zur Eskalation gekommen", meint Girnhuber.

Mit dem Verlust müssen Claus Girnhuber und Petra Pohlmeyer bis heute leben. Und die Trauer der Angehörigen wird nie ganz verschwinden. Der Mensch habe Narben - "die sind einfach nicht wegzubügeln im Leben", sagt Petra Pohlmeyer.

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