Werner Gonsior als Kind in den 1960er-Jahren. © NDR/Werner Gonsior

"Wir trauten unseren Augen nicht"

Stand: 05.02.2012 08:00 Uhr

Werner Gonsior erlebt die Sturmflut 1962 mitten in Wilhelmsburg. Er ist damals zehn Jahre alt und schildert seine Erlebnisse aus der Sicht eines Jungen - nicht erschreckend und dramatisch, sondern eher abenteuerlich und voller Emotionen.

Ein Zeitzeugenbericht von Werner Gonsior

Ich wohnte mit meiner Familie geografisch gesehen wohl fast genau in der Mitte von Wilhelmsburg: Ziegelerstieg 2, Parallelstraße zur Georg-Wilhelm-Straße, zwischen der Ziegelerstraße und dem Kurdamm. Es war der 16. Februar, als ein Klassenkamerad und ich aus der katholischen Volksschule Bonifatiusstraße, die wir besuchten, den Heimweg antraten.

Spielend durch den Wind

Werner Gonsior als Kind in den 1960er-Jahren. © NDR/Werner Gonsior
Am Nachmittag vor der Sturmflut spielte Werner Gonsior, damals zehn Jahre alt, mit einem Freund auf dem Weg von der Schule nach Hause noch im Sturm.

Der Wind aus Nordwest blies so stark, wie wir ihn noch nie vorher erlebt hatten. In Höhe des ehemaligen Friedhofs, wo damals die Industriebahn von der Straße Schmidts Breite kommend in Richtung Rangierbahnhof entlang führte, spielten wir in diesem orkanartigen Sturm "Sprung aus den Wolken" - gleich der amerikanischen Fernsehserie, deren Hauptdarsteller zwei Fallschirmspringer waren, die uns sehr beeindruckten. Wir hatten das Gefühl, gegen den Sturm nicht umkippen zu können. Er hielt uns aufrecht, obwohl wir das Gefühl hatten, fast mit den Nasen den Boden berühren zu können.

Zu Hause angekommen, verlief das Leben recht normal. Zwar war der enorme Sturm ein Thema, doch aus den Nachrichten, wie meine Mutter später berichtete, ging nicht die Dramatik hervor, die sich in den nächsten Stunden ereignen sollte. Es herrschte die allgemeine Meinung "Die Deiche sind sicher!". So war es nicht verwunderlich, dass die Familie den Abend normal schloss und zu Bett ging. Unser Vater, der Spätschicht hatte und auf der Peute arbeitete, berichtete später von dem enorm hohen Wasserstand, den er beobachtet hatte.

"Das Wasser ist da! Das Wasser kommt!"

Es war am frühen Morgen, noch lange keine Weckens-Zeit, als meine Mutter völlig aufgebracht in das Zimmer kam, in dem mein Bruder und ich schliefen, und rief: "Das Wasser ist da! Das Wasser kommt!" Unsere Wohnung lag in der ersten Etage. Das Zimmer, in dem wir schliefen, war zum Hof gelegen, wo sich auch die Zugänge zum Keller und zur Waschküche befanden. Diese führten zwei Stufen vom Hof hinab und hatten wegen der etwas tieferen Lage einen kleinen Sielabfluss, der bei heftigem Regen und Verstopfung manchmal überfordert war, sodass Regenwasser auch in die Kellergänge gelangte. So vermuteten wir in unserem Halbschlaf auch dieses Mal solch eine kleine Überschwemmung in unseren Kellerräumen und verstanden die uns entgegengebrachte Panik ganz und gar nicht. Mit der Einstellung "Wischt doch selber das bisschen Wasser aus dem Keller" wollten wir uns im Bett wieder umdrehen und weiterschlafen. Doch Mutter gab keine Ruhe, bis sie uns ans Stubenfenster gebracht hatte.

Hausgemeinschaft zieht auf den Trockenboden

Ein überfluteter Hinterhof in Hamburg-Wilhelmsburg nach der Sturmflut am 17. Februar 1962. © NDR Foto: Karl-Heinz Pump
Ein gespenstischer Anblick: überfluteter Hinterhof mit Teppichstangen in Wilhelmsburg.

Wir trauten unseren Augen nicht! Die Teppichpfähle, die sich damals wohl auf jedem Haushof befanden, guckten nur noch 10 bis 20 Zentimeter aus einer schwarzen, unheimlich glänzenden Wasserfläche. Vieles war nur noch halb zu sehen. Das gegenüberliegende Haus, die Abstellschuppen und der Jägerzaun, der unseren Hof befriedete, waren gar nicht mehr zu sehen. Es war unwirklich. Mutter brachte uns zurück in die Realität: 'Wir müssen alle Sachen auf den Trockenboden bringen', war ihre und Vaters Anweisung. So evakuierten wir unseren halben Hausstand aus der Wohnung hinaus auf den Trockenboden. Die übrigen Hausbewohner taten es uns gleich. Die Hausgemeinschaft half vorzugsweise den im Hochparterre wohnenden Leuten, da niemand wusste, wie hoch das Wasser noch steigen würde. Wie sich später herausstellte, blieben diese Wohnungen glücklicherweise trocken. Doch es ging hier nur um ganz wenige Zentimeter.

Nach der Evakuierung der meisten Einrichtungs- und Haushaltsgegenstände - das Treppenhaus glich zeitweise einer Ameisenstraße - herrsche erst einmal Ruhe, Beklommenheit und Unschlüssigkeit. Nach einiger Zeit fiel der Strom aus. Jetzt herrschte absolute Dunkelheit. Auch die Straßenlaternen, die die gespenstische Szene noch eben erleuchteten, brannten nicht mehr. Ich sollte mich auf unsere in Sicherheit gebrachten Matratzen legen und schlafen. Wie konnte ich? Alle warteten darauf, dass es hell werden würde.

Autos schwimmen durch die Straßen

Als es endlich Tag wurde, nahm ich auf der Straßenseite unseres Hauses im Wasser treibend etwas Blaues und etwas Rotes wahr. Zuerst ahnte ich nicht, um was es sich hier handeln konnte, bis sich herausstellte, dass es die Dächer von zwei Pkw waren, die nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragten. Ansonsten war alles wie in der Nacht. Es herrschte eine unheimliche Stille. Selbst der Wind hatte etwas nachgelassen und die riesige Wasserfläche lag relativ ruhig und alles einschließend um uns. Es passierte nichts. Sicherlich bekam ich mit, dass man sich darum sorgte, ob man genügend Nahrungsmittel besaß. Wie war es um das Trinkwasser bestellt? Hatte man genügend Brennmaterial? Unser Vater hatte am Vorabend nach seiner Spätschicht glücklicherweise noch Brennmaterial aus dem Keller in die Wohnung gebracht. Doch das hielt auch nicht ewig.

Weitere Informationen
Blick auf ein Rettungsfahrzeug und Schlauchboote in der überfluteten Veringstraße in Hamburg-Wilhelmsburg nach der Sturmflut 1962. © NDR Foto: Karl-Heinz Pump

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Innerhalb der Hausgemeinschaft wurde konstruktiv organisiert und ich meine mich zu erinnern, dass auf einem oder zwei Herden für die gesamte Hausgemeinschaft gekocht wurde, um Brennmaterial zu sparen. Hilfe von außen kam noch nicht. Mit recht großer Angst und Unsicherheit, dass das Wasser noch weiter steigen würde, ging für mich der Tag zu Ende und ich musste ins Bett. Soweit ich mich erinnern kann, kam am nächsten Tag Leben auf. Wir wurden erst einmal mit dem Allernotwendigsten wie warmem Essen aus der Gulaschkanone und Trinkwasser in Kanistern per Sturmboot der Bundeswehr versorgt. Auch die ersten Hubschrauber kreisten über uns, um am nächsten Tag die Versorgung zu übernehmen.

Versorgung aus der Luft

Ein Hubschrauber fliegt über dem überschwemmten Hamburg-Wilhelmsburg 1962 © NDR Foto: Hildegard Westphal
Hubschrauber versorgten die Eingeschlossenen aus der Luft mit Lebensmitteln und Trinkwasser.

Es wurde eine 'Luftbrücke' eingerichtet, über die wir mit jeder Art von Lebensmitteln und Brennmaterial versorgt wurden. Die männlichen Bewohner unseres Hauses nahmen die Dinge auf dem Hausdach von den Versorgungsfliegern entgegen. Leider durfte ich nicht direkt mit dabei sein, da meine Eltern befürchteten, ich wäre zu leicht und könnte durch den enormen Luftdruck vom Dach geweht werden.

So dankbar wir die Hilfsgüter entgegen nahmen, so hatten zumindest die ersten Versorgungsflüge auch eine kleine Schattenseite. Da die Hubschrauber direkt über den Dächern und somit über den Schornsteinen standen, drückten sie die Luft in die Schächte. Alle Bewohner hatten Öfen in den Küchen und Stuben. Die Öfen hatten eine direkte Verbindung zu den Schornsteinen und einen Kasten, in dem die Asche aufgefangen wurde. Als die ersten Hubschrauber in kürzester Entfernung über die Dächer und Schornsteine flogen, waren die Aschkästen leer und die Räume voller Asche.

Fässer und Töpfe "tanzen" mit der Tide

Porträt von Werner Gonsior. © NDR/Werner Gonsior
Werner Gonsior hatte Glück: Keiner aus der Familie oder Verwandtschaft zählte zu den Flutopfern.

Ein weiteres Erlebnis ist mir gut in Erinnerung geblieben: Nicht weit von unserer Wohnung hatte ein Chemieunternehmen, die 3M-Companie, ihr Materiallager. Dieses bestand sowohl aus vollen als auch aus leeren 200-Liter-Fässern. Als das Wasser immer höher stieg, schwammen die Leerfässer über den Begrenzungszaun hinweg auf einen in L-Form gebauten Wohnblock entlang der Georg-Wilhelm-Straße zu und verblieben in diesem Häuserwinkel. Bedingt durch die Bewegung des Wassers und begünstigt durch den Wind stießen die Fässer, deren Anzahl ich auf 150 bis 200 Stück schätzte, ständig gegeneinander. Es war ein ständiges Trommeln, das erst verstummte, als das Wasser allmählich ablief.

Eine weitere Beobachtung, die ich in Erinnerung habe: In der Nebenstraße, der Ziegelerstraße, standen Häuser mit Parterre-Wohnungen, die ebenerdig waren. Die Bewohner hatten auf den Fensterbänken Blumentöpfe - wohl mit Übertöpfen - stehen. Als das Wasser diese Wohnungen überflutete (von dortigen Opfern ist mir nichts bekannt), schwammen die Blumentöpfe an den Fenstern bis oben auf Höhe des Fensterkreuzes, um sich bei Ebbe wieder auf den Fensterbänken zu platzieren. Das ging einige Tage so weiter. Bei Flut oben, bei Ebbe unten.

Porträt von Werner Gonsior. © NDR/Werner Gonsior
AUDIO: Sturmflut 1962: Werner Gonsior erinnert sich (3 Min)
Sturmflut 1962 in Hamburg: Überflutete Behelfsheime in der Peutestraße auf der Veddel. © NDR Foto: Adolf Scharenberg
AUDIO: "Aufwachen, wir saufen ab!" (47 Min)

Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | 06.02.2012 | 08:00 Uhr

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