Per Laster und Floß zur Familie nach Kirchdorf
1962 ist der Hamburger Rolf Leptien 20 Jahre alt und als Gefreiter bei der Bundeswehr in der Nähe von Neumünster stationiert. Als er von der Sturmflut hört, macht er sich auf, um nach seinen Angehörigen in Kirchdorf zu sehen.
Ein Zeitzeugenbericht von Rolf Leptien
"Ich war in Boostedt bei Neumünster stationiert, Gefreiter bei der Bundeswehr, als ich hörte 'Flut in Wilhelmsburg'! Was ist mit den Angehörigen in Kirchdorf? Telefonieren klappte nicht. Bekam sofort einen Tag Sonderurlaub, umgezogen, rein ins Auto und ab nach Hamburg. Ich kam bis zu den Landungsbrücken, weiter ging es nicht, schon gar nicht für Zivilisten. Ich wieder zurück, mittlerweile wusste man in der Kaserne auch, wie es um Hamburg stand und der Kompanie-Chef gab mir sofort 'Sonderurlaub bis auf Weiteres'.
Blauen Dienstanzug angezogen, Parka drüber und wieder ab nach Hamburg. Normal war immer noch nicht durchzukommen. Da geschah mir etwas Wunderliches: Ich stand da und schaute mich um, als ein Unteroffizier auf mich zukam, stramm stand und mir Meldung machte. Das war der Dienstanzug - den wohl normalerweise hier nur obere Dienstgrade trugen und er hielt mich für was Höheres. Ich sagte mir: 'Was soll's, der Zweck heiligt die Mittel' und befragte ihn über Kirchdorf. Es sah dort nicht gut aus, man konnte nur bis zum Wilhelmsburger Bahnhofsplatz gelangen, der hoch lag, dort war auch ein Hubschrauberlandeplatz eingerichtet worden. Er besorgte mir dann einen Lkw, der mich dorthin bringen sollte.
Keine Landemöglichkeit für den Helikopter
Der hochrädrige MAN-Laster kam über Umwege ganz gut durch, auch wenn das Wasser oft bis zu den Türen reichte. Die beiden Soldaten waren ausgesprochen höflich zu mir und ich habe ihnen gegenüber meinen Dienstgrad nicht erwähnt, was mir am Bahnhof zugute kam, als sie sich 'zackig' von mir verabschiedeten, nachdem sie mich zum Helikopter geleitet hatten. Der Pilot war sofort bereit, mich nach Kirchdorf zu fliegen. Da war aber nur Wasserwüste und keine Landemöglichkeit und so landete ich wieder am Bahnhof. Der MAN stand noch dort und ich fragte die beiden, ob man mit dem Laster noch weiterkommt. Wussten sie auch nicht, wollten es aber mit mir versuchen.
Nach fünf Stunden kam ein Floß vorbei
Nach einer Weile Kreuz- und Querfahren kamen wir durch eine Schrebergartenanlage, das Wasser stand bei den kleinen Lauben und Häuschen bis zum Dach. Plötzlich machte der Fahrer mich auf eine Leiche aufmerksam, die an einer hohen Hecke hängengeblieben war, eine unbekleidete Frau mittleren Alters. Der Beifahrer meldete es sogleich über Funk, damit sie geborgen wird. Nach weiterem Hin und Her kamen wir zur Eisenbahnbrücke Neuenfelder Straße, wo sie mich nun absetzen wollten, da sie der Meinung waren, dass hier Soldaten mit Booten unterwegs seien, um in den Siedlungen zu helfen. Das war mir recht. Sie verabschiedeten sich mit dem Hinweis, dass sie melden würden, wo sie mich abgesetzt hatten, damit später vielleicht mal nachgeschaut werden könne, ob ich weggekommen sei.
Nach etwa drei Stunden war immer noch kein Boot vorbeigekommen und so langsam kroch die Kälte in mir hoch, aber ich hatte ja keine Möglichkeit wegzukommen. Nach weiteren zwei Stunden kam ein selbst gebautes Floß mit zwei Leuten vorbeigeschippert, einer war ein ehemaliger Mitschüler und sie waren gleich bereit, mich nach Hause zu bringen. Das war nicht so einfach, immerhin waren es ein paar Kilometer und das Floß war nicht sehr gut zu manövrieren. Glücklicherweise war schon Wasserstillstand. Hin und wieder trieb eine ertrunkene Kuh vorbei, einmal auch eine dicke, vollgefressene Ratte auf einem Brett.
"Froh, dass für uns alles glimpflich abgelaufen war"
Das Haus Siedenfelder Weg 89, wo wir wohnten, war etwas größer - mit einer Bäckerei im Erdgeschoss. Das Wasser stand bis zur ersten Etage und somit war auch diese unter Wasser. Oben schaute die Nachbarstochter aus dem Fenster, ich hörte ihren Ruf 'Rolf kommt' und ich wurde mit großem 'Hallo' empfangen, Mutter hatte feuchte Augen, als sie ihren 'Großen' in die Arme schloss. Glücklicherweise waren alle wohlauf, Essen war noch vorhanden, nur mit dem vom Hubschrauber gebrachten Trinkwasser musste man sparsam umgehen. So blieb ich noch einige Tage zum Helfen. Als der Wasserstand soweit gesunken war, dass die Straßen wieder befahrbar waren, machte ich mich wieder auf den Weg zur Kaserne - froh und glücklich, dass für uns alles soweit glimpflich abgelaufen war, wo ich doch unterwegs so viel Schlimmes gesehen hatte."