"Die Fahrten wurden zum Glücksspiel"
1962 ist der Hamburger DLRG-Rettungsschwimmer Herbert Johannsen 34 Jahre alt. In der Sturmflut-Nacht wird er zum Einsatz nach Moorfleet gerufen. Per Schlauchboot retten er und seine Kameraden die Menschen - und geraten selbst in Gefahr.
Ein Zeitzeugenbericht von Herbert Johannsen
"Wir lagen im Tiefschlaf, als uns gegen 2 Uhr morgens das Telefon weckte. Es meldete sich der DLRG-Kamerad Wolfgang und berichtete ziemlich verworren und aufgeregt, die Elbe stehe im Garten der DLRG-Zentrale in Teufelsbrück und das Bootshaus stünde unter Wasser. Mein Freund Wolfgang war bekannt für derbe Scherze, vor allem nach durchzechter Nacht. Also sagten wir ihm, er solle sehen, dass er auch ins Bett kommt und seinen Rausch ausschläft. Gleich darauf der nächste Anruf, diesmal mit drohendem Unterton, aber der gleichen Story. 15 Minuten später waren wir auf dem Weg zur DLRG-Zentrale in Teufelsbrück. Nacheinander trafen dort weitere Kameraden ein, sodass sofort durch unseren Einsatzleiter Hans Schmidt Einsatzgruppen zusammengestellt werden konnten.
Von Teufelsbrück zum Einsatz nach Moorfleet
Bootsbesatzungen standen bereit, die Außenbordmotoren waren einsatzbereit, aber wo waren unsere Schlauchboote? Das Bootshaus, welches aus bautechnischen Gründen als Keller angelegt war, stand bis zur Decke unter Wasser. Die Schlauchboote hatten sich zwischen Wasseroberfläche und Decke verkantet. Einige Kameraden tauchten mit Neopren-Anzügen in das Bootshaus, die Bootskörper wurden entlüftet und unter dem Tor durchgezogen.
Schnell wurden zwei Boote einsatzbereit gemacht, wir hatten jetzt Bootsführer, Boote und Motoren, aber kein Benzin. Tankstellen hatten morgens um 4 Uhr noch geschlossen. In dem Moment bat die Hamburger Berufsfeuerwehr um unsere Hilfe, man brauchte dringend Schlauchboote mit geringem Tiefgang. Die Boote wurden auf Lastwagen verladen und zur Hauptfeuerwache Berliner Tor transportiert. Dort erhielten wir aus den Beständen der Feuerwehr ausreichend Benzin für Außenbordmotoren. Jetzt waren wir endlich klar zum Einsatz. Das Rettungsschlauchboot 'Greif 3' mit den Bootsführern Waldemar Harms und Herbert Johannsen wurde per Feuerwehrfahrzeug zum Einsatzort Moorfleet/Billwerder/Andreas-Meyer-Straße gebracht.
Deichbruch: Moorfleet steht unter Wasser
Der Moorfleeter Deich war auf einer Länge von 50 Metern gebrochen und das Wasser des Holzhafens hatte die ganze Niederung zwischen Deich und Andreas-Meyer-Straße überflutet. Die Niederung war mit kleinen Einfamilienhäusern, Behelfsheimen und Treibhäusern aus Glas bebaut. An den Häusern stand das Wasser bis zum ersten Stock, die Behelfsheime und Treibhäuser waren nicht mehr zu sehen. Viele Menschen hatten sich in den oberen Etagen und zum Teil auf den Dächern vorläufig in Sicherheit gebracht. Die auf einer Warft erbaute St. Nikolaikirche war trocken geblieben, auch dort hatten sich Menschen versammelt und Schutz gesucht. Kaum jemand war ausreichend bekleidet, Nahrungsmittel und Trinkwasser gab es nicht.
Rettungsfahrten unter schwierigen Bedingungen
Unsere Aufgabe war es, die Menschen aus den Häusern zu bergen und schnellstens an das hochliegende Ufer der Andreas-Meyer-Straße zu bringen. Am Rand dieser Straße befanden sich mehrere kleine Behelfsheime und einige bewohnte Lauben, die das Wasser nicht erreicht hatte. Bei einer dieser Hütten brachten wir unser Boot zu Wasser. Da wir nicht wussten, welche Hindernisse uns unter Wasser erwarteten, wurden die Fahrten zum Glücksspiel. Ich saß vorn im Boot auf Ausguck und Waldemar Harms fuhr das Boot mit angehobenem Propeller, um nicht aufzulaufen.
Der Sturm blies immer noch sehr stark, das Boot war kaum zu manövrieren, aber Waldemar Harms war ein sehr erfahrener Bootsführer. Die ersten Fahrten verliefen ohne größere Schwierigkeiten, es gelang uns, circa 25 Personen zu bergen und sicher an Land zu bringen. Es war sehr problematisch, die zum Teil älteren Menschen zu bewegen, von den Fenstern der Häuser zwei Meter tiefer in das stark schwankende Schlauchboot zu klettern. Leitern oder Ähnliches standen nicht zur Verfügung. In einigen Fällen half nur sanfte Gewalt. Ein circa 80 Jahre alter Mann wollte sein Haus nicht verlassen, unter Mithilfe seiner Kinder bekamen wir ihn ins Boot. Dann wollte er unbedingt wieder zurück, um einen verschnürten Schuhkarton zu holen. Wir nahmen an, dass der Karton wichtige Papiere oder Schmucksachen enthielt, darum erfüllten wir seine Bitte. Später stellte sich heraus, dass der Karton sauber gerollte Socken enthielt.
Auf Glasdach gestrandet - und eingebrochen
Auf einer Tour zum Ufer - wir mussten nachtanken - erwischte uns ein Unterwasserhindernis. Der Gummiboden des Bootes wurde aufgeschlitzt und das Boot saß fest. Ich ertastete mit dem Paddel einen festen Punkt unter Wasser und kletterte aus dem Boot. Es gelang mir, das Boot freizuschaukeln, aber dann brach etwas unter mir ein und ich landete im Wasser. Ich hatte auf dem Glasdach eines Treibhauses gestanden, das dann unter meinem Gewicht einstürzte. Bei null Grad Außentemperatur und total nassen Sachen - auch die Gummistiefel waren voll Wasser - gab es nur eines: sofort an Land. Wir erreichten mit dem halbvollen Boot mit Mühe das Ufer. (...) Bald darauf wurden wir durch eine neue Bootsmannschaft abgelöst und zur DLRG-Zentrale nach Teufelsbrück zurückgebracht."
Herbert Johannsen und seine Kameraden erhielten vom Präsidium der DLRG für ihren Einsatz während der Sturmflut 1962 das Rettungsabzeichen in Silber.