30 Jahre Mauerfall: Mit Feuer, Furor und Liebe
In seinen Texten, Romanen und Essays beschäftigt sich der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Marcel Beyer immer wieder mit der deutschen Geschichte. Die Szenen, die sich im Oktober 1989 auf den Straßen Dresdens abspielten, beobachtete ein Freund von Marcel Beyer vom Balkon aus. Ein Ort, der zehn Jahre später eine ganz andere Rolle spielen wird.
Der einzige Mensch, den ich hier in Dresden jemals mit Feuer, mit Furor und mit Liebe von den Ereignissen der Umbruchzeit in der späten DDR habe erzählen hören, hat sich im Oktober 1999 aus dem Fenster gestürzt.
Beobachtungen vom Balkon aus
Ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam auf dem Balkon seiner kleinen Wohnung im Hochhaus an der Prager Straße standen und er hinunter zeigte aufs Pflaster der Fußgängerzone, wo im Oktober 1989 das Demonstrationsgeschehen um den Hauptbahnhof herum hin und her wogte.
Von Prag aus wurden DDR-Bürger über Dresden nach Westdeutschland geschleust, Dresdner versuchten, auf die Züge zu springen, der Hauptbahnhof wurde abgeriegelt. Es kam, wie sonst in keiner großen Stadt der DDR, zu Gewaltausbrüchen, die wiederum zur Folge hatten, dass die Demonstranten "keine Gewalt" riefen. Die Polizisten waren offenbar verunsichert, hielten inne.
Der Freund, als Quäker dem bedingungslosen Gewaltverzicht verpflichtet, schilderte, wie der Demonstrationszug, wie auch die sich gegen den Demonstrationszug stemmenden Polizisten unter seinem Balkon zum Stehen kamen, wie tatsächlich auf beiden Seiten die Gewalt - und vielleicht auch der Zorn und womöglich für einen Moment sogar die Angst - aus den Gliedern wich. Er erzählte mit leuchtenden Augen, und mir lief es heiß und kalt den Rücken hinauf und wieder hinunter.
Schluss mit dem Dreck und Mief
Dies war seine Urszene, auch wenn er, weit oben über der Straße auf seinem Balkon, gar nicht Teil der Szene, sondern lediglich ihr Beobachter gewesen war. Er sprach, als sei für ihn an diesem Tag, dem 8. Oktober 1989, tatsächlich ein für allemal Schluss gewesen mit der Angst, der Gewalt, dem gegenseitigen Belauern, dem Unwohlsein als Grundgefühl, dem ewigen Versteckspielen, wie er es als Homosexueller in der DDR bis dahin ein Leben lang hatte betreiben müssen. Schluss auch mit dem ganzen fürchterlichen, aggressiven, kleinbürgerlichen Dreck und Mief. Ein Traum eher als die Wirklichkeit, aber immerhin ein Traum.
"Keine Gewalt" - doch schon am 19. Dezember 1989, als Bundeskanzler Helmut Kohl Dresden besuchte, droschen Ordner auf Kundgebungsbesucher ein, die sich dem Deutschlandtaumel nicht hingeben mochten. "Deutschland" brüllten sie über die an der Frauenkirchenruine versammelte Menschenmenge hin, "Deutschland".
Im folgenden Juni dann, noch vor der Wiedervereinigung, klebten am Hauptbahnhof Plakate, auf denen der Holocaustleugner David Irving eine große Ost-Tour annoncierte, unter der Überschrift: "Ausflug in die historische Wahrheit".
Von der Verwandlung einer Stimmung
Warum mir, der ich 1996 von Köln nach Dresden gezogen bin, niemand außer dem Maler Wilhelm Müller, auf dessen Balkon wir eines Abends mit Blick auf die leere Prager Straße dort unten standen, derselbe Balkon, vom dem er sich, unheilbar erkrankt, in den Tod stürzen sollte, warum mir also außer Wilhelm Müller hier in Dresden nie jemand mit Feuer, mit Furor, mit Liebe von den Demonstrationen erzählt hat, von der Verwandlung einer Stimmung, die auf den Gewaltausbruch zusteuert, in eine Stimmung, die auf Friedfertigkeit, auf Verständigung setzt, weiß ich bis heute nicht.
Aber hätte ich für alles eine Erklärung, hätte ich auch im Westen bleiben können.