Idyllischer Rundflug mit Kriegsverbrecher
Es ist ein gigantisches Netz-Projekt: Mehr als 1.000 Filme haben die Mitarbeiter an der Datenbank "European Film Gateway 1914" (EFG) bereits online gestellt. Jeder Interessierte kann das Material aus 15 europäischen Ländern aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gratis abrufen. NDR.de hat sich in dem umfangreichen Archiv umgeschaut und einige in Norddeutschland entstandene Dokumente gefunden.
Dabei handelt es sich nicht nur um bewegte Kriegsbilder. Viele Aufnahmen zeigen gesellschaftliches Leben aus dieser Zeit und tragen als kleine Momentaufnahmen dazu bei, den Ersten Weltkrieg, dessen Voraussetzungen und Folgen vielleicht etwas besser zu begreifen.
"Der berühmte Flieger Christiansen" im Doppeldecker über Travemünde
Ein Beispiel ist ein "Im Flugzeug über Travemünde" betitelter, knapp dreiminütiger Stummfilm aus dem Deutschen Bundesarchiv. Harmlos erscheint auf den ersten Blick der Flug des Doppeldeckers über das schleswig-holsteinische Ostseeheilbad. Kurhaus und Wasserturm sind zu erkennen, am Strand sonnen sich Menschen.
Weniger harmlos ist der Pilot dieses idyllischen Rundflugs, dessen Name auf einer Tafel eingeblendet wird. "Start zum Wasserflug (in der Mitte der berühmte Flieger Christiansen)" steht dort. Als die Tafel ausgeblendet wird, sind vier gut gelaunte Männer, zwei von ihnen in Fliegerkleidung, zu sehen. Der mittlere von ihnen wird besonders höflich behandelt: ein Mann reicht ihm eine Zigarette, ein anderer zündet sie ihm an. Der Pilot trägt ein auffälliges Ordenskreuz am Kragen, die militärische Auszeichnung "Pour le Mérite".
"Der berühmte Flieger Christiansen" ist in Wyk auf Föhr geboren und heißt mit Vornamen Friedrich. Während des Ersten Weltkriegs wurden auf seinen Befehl hin zahlreiche Flugzeuge und ein britisches Luftschiff abgeschossen. Dafür verlieh ihm der Kaiser im Dezember 1917 den Verdienstorden.
Im Sommer 1919, der Entstehungszeit der Filmsequenz und etwa ein halbes Jahr nach Kriegsende, trägt Christiansen das Kreuz noch immer deutlich sichtbar. Für kritische Betrachter ein Hinweis darauf, dass die Schrecken des Ersten Weltkrieges, bei dem etwa zehn Millionen Menschen starben, bei ihm kein Umdenken, geschweige denn Reue für seine Taten ausgelöst haben dürften.
Unter Nazis für Tod von Hunderten verantwortlich
Keine 20 Jahre später wird Christiansen unter Hitler zum Reichskommissar für Luftfahrt, Führer des nationalsozialistischen Fliegerkorps im Ministerrang und Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden. Auf seine Anweisung hin brennen die Nazis unter anderem das holländische Dorf Putten nieder und deportieren etwa 660 Männer, von denen 540 in deutschen Konzentrationslagern sterben.
Nach dem Krieg verurteilt ein Militärgericht Christiansen zu zwölf Jahren Haft. Dennoch wird er in der Öffentlichkeit lange nicht als Kriegsverbrecher wahrgenommen. Stattdessen wird seine Wyker Ehrenbürgerschaft erneuert und eine Straße nach ihm benannt - worüber unter anderem der NDR bereits 1964 kritisch berichtet. Doch erst acht Jahre nach seinem Tod wird Christiansen die unpassende Würdigung im Jahr 1980 aberkannt.
Produktionsfirma politisch rechts
Wie Felix Schürmann vom Deutschen Filminstitut auf NDR.de-Anfrage erklärte, hat die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft (Deulig) die Christiansen-Sequenz "Im Flugzeug über Travemünde" produziert. Dieses 1916 von Industriellen ins Leben gerufene Unternehmen drehte während des Krieges Propagandafilme für die deutsche Wirtschaft und stand der politischen Rechten nahe.
Der Kaiser in Braunschweig und der Kieler Matrosenaufstand
Andere dokumentarische Filmsequenzen in der EFG-Datenbank zeigen den Besuch von Kaiser Wilhelm und seiner Familie in Braunschweig oder die Kaisergeburtstagsfeier in Seesen im Harz. Bewegte Bilder aus dem Tierpark Hannover sind ebenso darunter wie Szenen der Kaiserlichen Kriegsmarine oder Spielfilme wie "Das Lied der Matrosen", der den Kieler Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs thematisiert.