"Estonia"-Untergang: Kritik und weitere Fragen nach Ermittlungen
Der Untergang der Fähre "Estonia" im September 1994 wird besonders von Hinterbliebenen und Überlebenden kontrovers diskutiert. Obwohl es zum Hergang des Unglücks Gutachten gibt, bestehen Zweifel. Eine neue Untersuchung soll Klarheit bringen.
Schon kurz nach dem Untergang der "Estonia" mit 852 Toten fragten sich viele Überlebende und Hinterbliebene, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Warum ist das Schiff in so kurzer Zeit gesunken? Hätten mehr Menschen gerettet werden können? Um Antworten zu finden, gründeten Schweden, Estland und Finnland eine gemeinsame Untersuchungskommission: die Joint Accident Investigation Commission (JAIC).
Umstrittener Abschlussbericht
Drei Jahre lang untersuchten Experten der JAIC den Untergang der Fähre. Kurz bevor der offizielle Abschlussbericht 1997 publik gemacht wurde, traten allerdings mehrere Mitglieder der Kommission zurück. Nach der Veröffentlichung kritisierten vor allem die Hinterbliebenen das Gutachten. Aber auch der Erbauer der "Estonia", die Meyer-Werft, störte sich an dem Bericht - denn der "final report" der JAIC kommt zu dem Schluss, dass das Schiff wegen eines Konstruktionsfehlers untergegangen war.
Estnische Justiz zweifelt am JAIC-Bericht
Doch das Ergebnis des Berichtes ist für seine Kritiker nur der Versuch, niemanden für den Tod Hunderter Menschen verantwortlich zu machen. Viele trauen dem Report der JAIC nicht - hartnäckig halten sich Gerüchte, dass die schwedische, finnische und estnische Regierung mit dem 228 Seiten dicken Gutachten den wahren Grund der Katastrophe verschleiern wollen. Neun Jahre später erhebt der estnische Generalstaatsanwalt in einem Bericht erhebliche Zweifel an den 1997 veröffentlichten Erkenntnissen der JAIC. 2006 entscheidet die schwedische Regierung, das Unglück neu zu untersuchen: Zwei internationale Konsortien sollen den Untergang in einer Computersimulation rekonstruieren.
Hamburger untersuchen den Untergang
Die Hamburgische Schiffsbauversuchsanstalt (HSVA) und die Technische Universität Hamburg-Harburg (TUHH) sind mit der Untersuchung beauftragt. Ebenfalls drei Jahre lang erforschen die Institute das Fährunglück. Professor Stefan Krüger, Ingenieur am Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit der TUHH, hat damals die Arbeit an der Universität geleitet: "Wir haben versucht, aus den Zeugenaussagen einen technischen Sachverhalt darzustellen." Die HSVA hingegen wollte klären, wie das 157 Meter lange Schiff in kürzester Zeit sinken konnte.
Gleiches Ergebnis wie die JAIC
Am Ende kommen die beiden Institute zum gleichen Ergebnis wie die JAIC zehn Jahre zuvor. "Im Prinzip hatten sie damals schon ganz recht: Das Bugvisier ist abgefallen, weil es überlastet und außerdem schlecht gewartet war", bestätigt Professor Krüger die Erkenntnisse der JAIC. "Dann hat der Dampfer das Visier überfahren - und durch den Seegang ist massiv Wasser eingedrungen." Dies sei auch der Grund für die 30 Grad Schräglage, erklärt der Ingenieur und fügt an: "In dem Augenblick kommt da keiner mehr lebend raus."
Neue Untersuchungen am Wrack unmöglich
Für Krüger ist mit seinem Ergebnis der Untergang der "Estonia" aus technischer Sicht geklärt. Er und seine Kollegen haben für ihre Arbeit dieselben Daten genutzt wie die JAIC. Eine erneute Untersuchung am Wrack war allerdings nicht möglich: Seit 1995 gilt die sogenannte Bannmeile um die Unglücksstelle. Dieses Abkommen haben alle Ostseeanreinerstaaten - bis auf Deutschland - unterzeichnet und damit einen Bereich abgesteckt, in den niemand eindringen darf - auch nicht die forschenden Institute. "Wenn man sich wünschen dürfte, dass im Himmel Weihnachten wäre, hätte man natürlich Informationen geholt - indem man nochmal runtergetaucht wäre und aufs Autodeck geguckt hätte", sagt Krüger.
Kein Verständnis für Schwedens Umgang mit der Katastrophe
Für das skandinavische Land ist das Unglück eine nationale Katastrophe, denn weder vor noch nach dem 28. September 1994 sind so viele Schweden bei einem Unglück ums Leben gekommen. Die schwedische Regierung entschied im Dezember 1994, die "Estonia" mit Beton einzuhüllen. So sollte aus der Fähre eine "unantastbare heilige Stätte" werden. Für Krüger ist dieses Verhalten unerklärlich: "Die Schweden mögen ihre Gründe haben, die sind aber für mich nicht transparent." Wie die Angehörigen hat auch er das Gefühl, dass hinter der Katastrophe mehr steckt, als ein gewöhnliches Schiffsunglück. "Ich sehe da schon noch so ein paar Fragezeichen", sagt der Ingenieur und fügt an: "Die Frage, warum die sich mit dem Wrack so anstellen, gehört dazu."
Neue Untersuchungen - Ergebnisse 2025
Der offizielle Abschlussbericht von 1997 macht technisches Versagen an der Bugklappe für den Untergang der "Estonia" als Ursache aus. Doch seit der Entdeckung eines Risses im Rumpf des Wracks durch schwedische Dokumentarfilmer gibt es neue Fragen. Die estnische Regierung schreibt daraufhin eine europaweite Untersuchung aus. Sie soll den Einfluss des Risses auf den Untergang klären.
Professor Hendrik Dankowski von der Fachhochschule Kiel ist an den Untersuchungen beteiligt. Gemeinsam mit der Technischen Universität Hamburg-Harburg berechnet er mithilfe einer eigens entwickelten Sofware, den zeitlichen Verlauf des Unfallhergangs. Denn ein mögliches Szenario wäre auch, dass der Riss erst nach dem Untergang der "Estonia" entstanden sein könnte. "Es wird quasi im Computer simuliert, aufgrund eines physikalischen Modells, wie der zeitliche Verlauf des Unfallhergangs sein könnte. Es kann also berechnet werden, wie viel Wasser zu welchem Zeitpunkt, wo in das Schiff eingedrungen ist. Und welchen Einfluss das auf das Schiff hatte dann", sagt Dankowski dem NDR im September 2024. Erste Ergebnisse werden voraussichtlich für 2025 erwartet.