Der Untergang der "Jan Heweliusz"
Es war eines der schwersten Schiffsunglücke der Nachkriegszeit in der Ostsee: Im Sturm des Orkantiefs "Verena" sank am 14. Januar 1993 die polnische Fähre "Jan Heweliusz" vor der Küste Rügens. 55 Menschen kamen um.
Ein kieloben treibender Schiffsrumpf im wellenumtosten Meer. Das ist alles, was die Rettungskräfte sehen, als sie am Morgen des 14. Januar 1993 an der verunglückten Fähre "Jan Heweliusz" eintreffen. In der Nähe des Wracks, 20 Kilometer östlich von Rügen, treiben einige Rettungsinseln - manche leer, andere mit halb erfrorenen Menschen besetzt, die sich mit letzter Kraft aus der zwei Grad kalten Ostsee retten konnten. Trotz der widrigen Bedingungen können die Retter einige von ihnen in Sicherheit bringen.
Nur neun Menschen überlebten
Doch von den 63 Menschen an Bord der Eisenbahnfähre überleben nur neun - allesamt Crewmitglieder. Die meisten der 35 Passagiere - überwiegend Lkw-Fahrer aus Schweden, Österreich und Ungarn - überrascht das Unglück im Schlaf. Sie haben keine Chance. Neben dem Untergang der "Estonia" vor der finnischen Insel Utö im September 1994 mit 852 Todesopfern zählt das Fährunglück vor Rügen zu den verhängnisvollsten Nachkriegs-Schiffskatastrophen in der Ostsee.
Misslungenes Manöver
In jener Sturmnacht spielen sich im Seegebiet vor Rügen dramatische Szenen ab. Mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 150 Kilometern pro Stunde peitscht das Orkantief "Verena" mit meterhohen Wellen über das Meer. Auf seiner Fahrt vom polnischen Swinemünde ins schwedische Ystad bekommt das 126 Meter lange Schiff der Reederei "Euroafrica Shipping Lines" gegen zwei Uhr Schlagseite, wie Untersuchungen eines Seegerichts in Gdynia später ergeben. Offenbar hatten sich im Bauch der Fähre Eisenbahnwaggons aus der Verankerung gelöst. Der polnische Kapitän Andrzej Ulasiewicz versucht, Ballastwasser in die Ausgleichstanks zu pumpen, um das Schiff zu stabilisieren. Als sich die Fähre gefährlich auf die Backbordseite neigt, pumpt der Kapitän das Ballastwasser wieder um. Doch der Havarist ist bereits so stark zur Seite gekippt, dass der Versuch erfolglos bleibt. Gegen 4.45 Uhr setzt Ulasiewicz einen Hilferuf ab. Um kurz nach fünf Uhr morgens treibt die "Jan Heweliusz" kieloben im Wasser.
Internationale Rettungsaktion
In Parow bei Stralsund und in Dänemark steigen Rettungshubschrauber auf. Seenotrettungskreuzer und eine Fähre laufen zu der Unglücksstelle aus. Fischkutter, die ebenfalls helfen wollen, müssen wegen der schweren See wieder abdrehen. Die Besatzung konnte aufgrund des Sturms keine Beiboote zu Wasser lassen. Nur wenigen gelingt der Sprung auf eine Rettungsinsel. Einige Überlebende sind wegen der Kälte nicht mehr in der Lage, sich die Rettungsschlingen selbst umzulegen, als sie an Bord der Hubschrauber gezogen und danach in ein Stralsunder Krankenhaus geflogen werden. Ein Hubschrauberpilot erzählt später, dass der Rückflug von der Unglücksstelle wegen des Sturms dreimal länger als der Hinflug gedauert habe.
Spekulationen über Flüchtlinge an Bord
Nach dem Unglück werden Vorwürfe gegen die deutschen Rettungskräfte laut, zu spät eingetroffen zu sein. Doch wegen des Sturms sind die Funkverbindungen schlecht. Zudem brechen vielerorts die Telefonverbindungen ab. Die Vorwürfe werden später entkräftet. Ein Jahr nach dem Unglück erreicht deutsche Retter eine Einladung ins östliche Nachbarland. Dort werden sie als "polnische Volkshelden" geehrt. Kurz nachdem die Suche nach Überlebenden eingestellt wird, schießen wilde Spekulationen über die Unglücksursache ins Kraut. Schwedische Zeitungen berichten zudem, dass häufig Flüchtlinge als blinde Passagiere in plombierten Möbelwaggons über die Fähre nach Schweden gelangt sind. Polnische Behörden weisen einen Bericht des "Spiegels" jedoch zurück, dass sich auch auf der gesunkenen Unglückfähre Flüchtlinge befunden haben könnten. Das Nachrichtenmagazin beruft sich auf Fernfahrer, die bei früheren Überfahrten Menschenstimmen aus Containern und Eisenbahnwaggons gehört haben wollen.
Karte: Hier sank am 14. Januar 1993 die "Jan Heweliusz"
Eine Serie von Pannen
Jahre nach dem Unglück macht ein Seegericht die Schuldigen aus. Neben Reederei, Schiffsgesellschaft und dem Seeamt Stettin wird auch der beim Untergang ums Leben gekommene Kapitän für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Dieser schlug alle Warnungen vor dem Sturm aus und gab in der Unglücksnacht das Signal zum Auslaufen aus dem Swinemünder Hafen. Außerdem galt das Schiff wegen schwerer Sicherheitsmängel als seeuntauglich. Erst wenige Tage vor seinem Untergang war die Heckklappe bei einem Anlegemanöver in Ystad beschädigt worden - es war nicht die einzige Panne seit der Schiffsindienststellung im Jahr 1977. 2005 entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass Polen elf Angehörigen Entschädigungen von jeweils 4.600 Euro zahlen muss.
Sicherheitsanforderungen werden verschärft
Die Sicherheitsdebatte nimmt anderthalb Jahre später nach dem verheerenden Untergang der "Estonia" endgültig an Fahrt auf. 1996 verschärfen acht nordeuropäische Länder mit dem Stockholm-Abkommen schließlich die Sicherheitsanforderungen für sogenannte RoPax-Fähren. Zusätzliche Schiebeschotten auf den Fahrzeugdecks werden eingeführt und die Anforderungen an die Stabilität bei einem Leck erhöht.
Gefährliche Unterwassertrips im Seegrab
Das 25 Meter unter der Wasserfläche liegende Wrack ist bis heute nicht geborgen. Es hat den Status eines Seegrabs. Eine Leuchttonne markiert die Stelle. In den Trümmern werden noch immer die sterblichen Überreste von 37 Menschen vermutet. Es sind nicht die letzten, für die der stählerne Rumpf der "Jan Heweliusz" zum Sarg wurde. Das spektakuläre Wrack lockt immer wieder Taucher zu gefährlichen Unterwassertrips an. Mehrere von ihnen kommen in den finsteren Ladedecks, in denen selbst leistungsstarke Schweinwerfer nur so blass wie Kerzen leuchten und immer wieder rostige Schrottteile herabstürzen, zu Tode.