Der Spion, der 1916 vielleicht die Freiheitsstatue sprengte
Die Spuren einer der größten Explosionen der Geschichte führen nach MV und vereinen Recherchen aus Schwerin und New York. Im Leben des Spions Lothar Witzke sind aber noch etliche Rätsel zu klären.
Nach ihrer Eröffnung 1886 erklimmen Tausende Besucher die New Yorker Freiheitsstatue - bis hoch zur Fackel. Seit dem 30. Juli 1916 geht das nicht mehr. Die Treppe ist bis heute beschädigt von einer Explosion, die damals die ganze Stadt erschüttert und angeblich bis Connecticut zu hören gewesen ist. Sie war kein Unfall, sondern Sabotage. Ziel war nicht die Freiheitsstatue, sondern die benachbarten Lagerhallen, genannt "Black Tom". Von hier aus sollten 1.000 Tonnen Munition und Sprengstoff nach Russland verschifft werden - für den Krieg gegen das Deutsche Reich. Deshalb stehen auch deutsche Spione unter Verdacht, "Black Tom" gesprengt zu haben. Einer davon: der damals 22-jährige Lothar Witzke.
Großvater führte ein Doppelleben
Was Lothar Witzke während des Ersten Weltkriegs gemacht hat, war lange selbst für seine Familie ein Geheimnis. Sein Enkel Christoph Moinian ist Musiker der Mecklenburgischen Staatskapelle in Schwerin. Lange kannte er nur die Erzählungen über einen liebenden Familienvater, der viel auf Reisen war: "Der Großvater, den ich in mir hatte, den gab es gar nicht, sondern das war ein komplett anderer Mensch", sagt Christoph Moinian. Kurz nach dem Mauerfall erfährt seine Mutter Helga, dass ihr Vater offenbar ein Doppelleben geführt hat. Doch sie verdrängt das lange und stellt keine Fragen. Erst Christoph Moinian beginnt, über seinen Großvater zu recherchieren, als er vor etwa vier Jahren einen Anruf aus New York erhält.
Patriot und Abenteurer
Was die Familie bis dahin wusste: Lothar Witzke verlässt mit 17 Jahren seine Heimat Posen und fährt von Hamburg aus zur See. Doch er will noch mehr erleben und auch sein Vaterland im Krieg unterstützen. An seine Eltern schreibt er Ende 1915: "Vatel schreibt mir nun, daß wir doch hier eigentlich nichts auszustehen hätten und uns gegen das Los unserer Soldaten in Deutschland doch eigentlich nicht beklagen könnten. Aber da liegt ja der Hase im Pfeffer. […] Diese Untätigkeit wird auf die Dauer unerträglich!" Im Frühjahr 1916 geht Lothar Witzke in Valparaiso (Chile) von Bord. Aus den Briefen weiß sein Enkel Christoph Moinian heute: "Er konnte schnell Sprachen lernen, er hatte keine Angst und er hatte den Wunsch, diese Welt zu erkunden, auch mit so ein bisschen Großmannssucht. Und ich glaube, dann hat ihm das Leben einfach immer wieder Angebote gegeben."
New Yorker recherchieren Witzkes Lebensgeschichte
Irgendwo zwischen einem deutschen Krankenhaus in Chile und einer Sodafabrik in San Francisco nimmt Lothar Witzke das Angebot an, Spion für das Deutsche Reich zu werden. Bevor die USA in den Krieg eintreten, tummelt sich die deutsche Geheimdienstszene an der Adresse "123 West 15th Street" in New York. Witzke verschafft sich eine neue Identität und transportiert als russischstämmiger Pablo Waberski Dokumente, Gold und Waffen. Offenbar bekommt er auch schnell größere Aufträge: Mehrere Explosionen amerikanischer Fabriken und Militärstützpunkte sollen auf das Konto deutscher Saboteure gehen.
Aus Polizei- und Verhörprotokollen haben der New Yorker Anwalt Paul Friedland und der Historiker Robert Hornick das rekonstruiert. Sie wissen: Lothar Witzke gerät dabei nur unter Verdacht, weil er gern mit seinen Taten prahlte: "Er hat mehreren Menschen erzählt, dass er auf einem Boot auf dem Hudson River war, um Mitternacht am 30. Juli 1916 und dass er von dort 'Black Tom' explodieren ließ", erklärt Paul Friedland. Witzke habe auch mit der Bombardierung eines Marinestützpunktes in San Francisco im Jahr 1917 geprahlt. Seine Prahlereien seien authentisch gewesen, so Friedland, weil er viele Details kannte.
Todesurteil wegen Spionage
Als die USA im Frühjahr 1917 in den Krieg eintreten, fliehen mehrere deutsche Spione nach Mexiko. Die neue mexikanische Regierung unter dem Revolutionär Venustiano Carranza sympathisiert zu dieser Zeit mit dem Deutschen Reich. Lothar Witzke arbeitet von Mexiko-Stadt aus weiter - und fällt auf einen Doppelagenten herein. Vor Paul Altendorf prahlt er mit seinen Taten und erzählt ihm von neuen Aufträgen. So wissen die US-Behörden, dass Witzke im Januar 1918 von Mexiko-Stadt in die Grenzstadt Nogales reist. Bei einem kurzen Einkauf wird Witzke von dem US-Polizisten verhaftet, den er dort eigentlich töten sollte. Laut Polizeiprotokoll finden sich in Witzkes Gepäck unter anderem verschiedene Pässe, ein Revolver, ein nicht verschickter Liebesbrief an eine Frau in Berkeley - und ein kleiner Zettel mit einer verschlüsselten Botschaft. Die ist adressiert an das Konsulat in Mexiko mit der Bitte um Unterstützung für den deutschen Geheimagenten Lothar Witzke. Der Zettel ist damit das entscheidende Beweisstück, mit dem Witzke in den USA wegen Spionage zum Tode verurteilt wird.
"Black Tom": Hat er es getan oder nicht?
Doch bevor das Urteil vollstreckt wird, endet der Erste Weltkrieg. Nach fünf Jahren Haft wird Witzke begnadigt. So stoßen Paul Friedland und Robert Hornick überhaupt erst auf seinen Namen: Von der US-Regierung hatten sie 2019 den Auftrag bekommen, alle Begnadigungen aufzuarbeiten, die die USA jemals ausgesprochen haben - darunter Lothar Witzke als einziger deutscher Spion im Ersten Weltkrieg. Seine Geschichte fesselt die New Yorker so sehr, dass sie eine Biografie über ihn geschrieben haben: "Citizen of the Shadows: The Lives and Lies of a Master Spy". Darin arbeiten sie auch die Frage auf, über die die USA und Deutschland 16 Jahre lang stritten: Hat Lothar Witzke "Black Tom" gesprengt oder nicht? Laut Anwalt Paul Friedland gibt es Dokumente, die belegen, dass Witzke in Kalifornien war, als die "Black Tom"-Explosion passierte. Außerdem habe er fälschlicherweise mit mindestens einer Sabotage geprahlt, die er nicht begangen haben kann.
Das Fazit von Friedland und Hornick: "Die meiste Zeit, in der wir an unserem Buch gearbeitet haben, dachten wir, dass Witzke für 'Black Tom' verantwortlich ist. Aber wir haben letztendlich entschieden, dass er häufiger falsch geprahlt hat, als dass er die Wahrheit sagte." Auch wenn seine Biografen sich an die Fakten halten - auch die Erzählungen von Christoph Moinian haben sie in ihr Buch einfließen lassen. Weil er sich in seinem Großvater und seiner Mutter wiedererkennt, schätzt er die Prahlerei anders ein: "Ich würde mir nie etwas ausdenken, einfach völlig aus dem Blauen heraus und damit losbrechen. Aber was ich schon mache, ist das, was ich tue, aufzublasen. Deshalb bin da völlig überzeugt, dass er das gemacht hat. Gar kein Zweifel." Dass es keinen endgültigen Beweis für "Black Tom" gibt, rettet Lothar Witzke damals wohl das Leben. 1923 kehrt er nach Deutschland zurück und arbeitet nachweislich auch während des Zweiten Weltkriegs für den Geheimdienst.
"Heute lande ich meinen ganz großen Coup"
An seinem ersten Tag als Rentner verlässt Lothar Witzke 1962 Frau und Tochter in dem gemeinsamen Haus in Hamburg-Volksdorf mit den Worten: "Heute lande ich den ganz großen Coup." Das Nächste, was die Familie von ihm hört, ist die Nachricht über seinen Tod. Erst 30 Jahre später, kurz nach dem Mauerfall, bekommt seine Tochter Helga einen ominösen Anruf - offenbar von einem ehemaligen Offizier der Staatssicherheit der DDR. Der erzählt ihr von dem Doppelleben ihres Vaters und behauptet: Lothar Witzke starb im Bett seiner Geliebten, die wiederum für die Stasi spionierte und auf ihn angesetzt war. Für Witzkes Biografen ist damit die Frage nach seinem Tod, die wohl spannendste: "Es ist kaum vorstellbar, dass ein Spion, der im Verdacht steht, 'Black Tom' gesprengt zu haben, mit 66 Jahren seinen größten Coup starten will", sagt Paul Friedland. "Wir wissen nicht, was er vorhatte, aber damit bleibt er bis zum letzten Tag seines Lebens ein 'citizen of the shadows'."
Dieser mysteriöse Tod und der Umstand, dass Lothar Witzke bis zuletzt nicht über sein wahres Geschäft erzählt, lässt Christoph Moinian glauben, dass er nie ganz damit aufgehört hat: "Da ist ein Leben lang Know-how, was er angehäuft hat und warum soll sich das gerade in dieser kalten Kriegszeit nicht wieder die eine oder andere Seite zunutze gemacht haben?" Die Fackel der Freiheitsstatue ist durch die Explosion von "Black Tom" bis heute beschädigt. Ob Lothar Witzke dafür verantwortlich ist, bleibt damit eine von vielen noch offenen Fragen seines Lebens.