1998 beschließt Volkswagen Hilfsfonds für NS-Zwangsarbeiter
Am 11. September 1998 bringt der VW-Aufsichtsrat einen Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter der NS-Zeit auf den Weg. 20 Millionen D-Mark umfasst er. Der Konzern nimmt damit eine Vorreiterrolle ein.
Am 26. Mai 1938 legt Adolf Hitler am Mittellandkanal bei Fallersleben den Grundstein für VW, den heute größten Autobauer Europas. Und die Nazi-Vergangenheit wiegt auch nach dem Zweiten Weltkrieg schwer. Denn was damals bei einem Festakt vor 50.000 Teilnehmern als Motorisierung der Massen inszeniert wird, entwickelt sich bei Kriegsbeginn zu einem Rüstungsbetrieb, dessen Belegschaft immer mehr aus Zwangsarbeitern besteht.
Laut VW werden bereits ab 1938 italienische Bauarbeiter angeworben, weil mehrere Tausend deutsche Kräfte zum Bau des sogenannten Westwalls abgezogen worden sind. Was deren Entlohnung, Versorgung und Behandlung betrifft, seien diese Wanderarbeiter den deutschen Beschäftigten gleichgestellt gewesen, so VW. "Nach Kriegsbeginn griff die damalige Volkswagen-Gesellschaft ständig auf ausländische Ersatzarbeitskräfte zurück", heißt es in der VW-Schriftenreihe "Aus der Geschichte lernen" von 1999. Der Übergang zur Zwangsarbeit habe sich im Januar 1941 vollzogen, "als dem Hauptwerk - nach 300 polnischen Frauen im Spätsommer 1940 - mehr als 1.000 deutsche Militärstrafgefangene zugewiesen wurden".
"Gefangene waren der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert"
Diese "unfreien Arbeiter" werden auch anders behandelt: "Die Gefangenen waren seit Februar 1941 in einem mit Stacheldraht umzäunten Bereich des Gemeinschaftslagers untergebracht und dort der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert", ist in der VW-Publikation "Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks" zu lesen.
Militärfahrzeuge für den deutschen Vernichtungskrieg
Der "Kraft durch Freude"-Wagen, der schon im Jahr 1934 angekündigt worden ist und auf den 336.000 Deutsche gespart haben, wird bis Kriegsende nur in 630 Exemplaren gebaut. Privatautos bleiben weiterhin einer kleinen, privilegierten Schicht vorbehalten. Stattdessen liefert das Volkswagenwerk mehr als 60.000 Militärfahrzeuge für den deutschen Vernichtungskrieg an Wehrmacht und SS, zudem Tellerminen, Panzerfäuste und Flugbomben. Darüber hinaus repariert das Werk Kampfflugzeuge der Luftwaffe. Dafür wird das Unternehmen als "Kriegsmusterbetrieb" und "Nationalsozialistischer Musterbetrieb" gerühmt. Für die Planung des Werkes ist Ferdinand Porsche (1875-1951) verantwortlich. Kurze Zeit nach der Gründung des ersten Volkswagen-Werkes entsteht auch die neue "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" - das spätere Wolfsburg.
Politisch legitimierter Rassismus
Die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter müssen nicht nur bei Volkswagen, sondern auch in anderen deutschen Unternehmen "massive Benachteiligungen gegenüber der deutschen Bevölkerung hinnehmen", ist in der VW-Schriftenreihe zu lesen. Die Diskriminierung sei vorwiegend rassistisch motiviert gewesen, habe sich selbst als politisch legitimiert verstanden und sei ein Teil staatlicher Politik der nationalsozialistischen Ära gewesen. Zu den Zwangsarbeitern zählen damals vor allem deportierte Zivilisten aus Polen und der Sowjetunion, mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen. Außerdem werden Kriegsgefangene aus Polen, Frankreich und Serbien, italienische Militärinternierte sowie Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene zur Arbeit im Deutschen Reich herangezogen.
Tausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge müssen für VW arbeiten
Bei VW werden von 1941 bis 1942 zur "Konsolidierung der Rüstungsbetriebe rund 1.000 sowjetische Kriegsgefangene und 800 KZ-Häftlinge eingesetzt. Von 1942 bis 1944 steht die Expansion der Rüstungsfertigung an, zu der 5.000 sogenannte Ostarbeiter verpflichtet werden, wie aus der Schriftenreihe "Aus der Geschichte lernen" hervorgeht. Allein für 1943 werden 600 polnische, 1.500 französische und 300 niederländische Zwangsarbeiter rekrutiert. Die VW-Archivangaben nennen auch 1.800 französische und 200 serbische Kriegsgefangene, dazu noch 1.640 italienische Militärinternierte. Als das Unternehmen von 1944 bis 1945 dezentralisiert wird und die sogenannte Untertageverlagerung ansteht, kommen 4.460 KZ-Häftlinge, 400 jüdische "Sonderdienstverpflichtete" und 300 Justizgefangene hinzu. 1944 besteht die Belegschaft zu zwei Dritteln aus Zwangsarbeitern.
Arbeiter sind oft in einem sehr schlechten körperlichen Zustand
Die zwangsverpflichteten Menschen sind laut VW-Schriftenreihe damals oft nicht in der Lage, körperlich zu arbeiten. "Ein regulärer Industrieeinsatz war schon durch deren erbärmlichen Ernährungs- und Gesundheitszustand unmöglich", heißt es etwa über die Zuweisung von 650 sowjetischen Kriegsgefangenen Anfang Oktober 1941. Manche von ihnen hätten nicht mehr allein gehen können und seien an den Maschinen erschöpft zusammengebrochen. Zwar sei dann die Lebensmittelversorgung verbessert worden, eine zufriedenstellende Situation sei aber nicht erreicht worden.
Im Hauptwerk müssen die Arbeiter neben Kübel- und Schwimmwagen sowie Flugzeugbauteilen auch Flugbomben, Tellerminen und Panzerfäuste produzieren. Ihre Unterbringung und Verpflegung stellen sich etwas besser dar als etwa die Behandlung der Häftlinge in den KZ-Lagern. Dort sind die Zwangsarbeiter "vorwiegend damit beschäftigt, mit notdürftigsten Mitteln an verschiedenen Standorten Erzbergwerke, Asphaltgruben oder Eisenbahntunnel zu Fertigungsbetrieben oder Montagewerken auszubauen". Dabei sei es zu zahlreichen Todesfällen gekommen, so die Schriftenreihe "Aus der Geschichte lernen". Schließlich beenden die Alliierten im Mai 1945 dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte.
Vergangenheitsbewältigung mit Verzögerung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Produktion in Wolfsburg recht schnell wieder aufgenommen - unter britischer Treuhänderschaft. Nun werden zivile Volkswagen-Limousinen produziert. Ein Großauftrag der britischen Militärverwaltung über 20.000 "Käfer" sichert die Existenz des Standorts. Die Zeichen stehen wie in der ganzen Bundesrepublik auf wirtschaftlichem Wiederaufbau und sozialem Aufstieg. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird verdrängt - zunächst.
Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter zählen lange zu den Opfergruppen, die vom deutschen Entschädigungsrecht nicht berücksichtigt worden sind. Das 1953 in Kraft getretene Bundesentschädigungsgesetz schließt im Ausland lebende sowie nicht rassistisch oder politisch Verfolgte weitgehend von seinen Leistungen aus. Die Bundesrepublik leistet lediglich Zahlungen an einzelne Staaten, sogenannte Globalabkommen. Die DDR lehnt sogar jegliche Entschädigung für ausländische NS-Opfer ab.
Die "Vergangenheitsbewältigung" wird Ende der 1960er-Jahre politisch wieder ein Thema. In den 1980-Jahren nehmen VW-Mitarbeiter die Diskussion auf, die es für unverzichtbar hält, sich der Geschichte der NS-Zeit zu stellen. Die Arbeitnehmervertretung um den Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzenden Walter Hiller habe das Thema immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt, so die Schriftenreihe. Der Konzern beschließt, die Zwangsarbeit im damaligen Volkswagenwerk wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen.
"Vorstand und Betriebsrat der Volkswagen AG halten es für erforderlich, diese Vorgänge so lückenlos und umfassend aufzuklären, wie dies aufgrund aller erhaltenen Dokumente möglich ist." VW-Pressemitteilung vom 7. Mai 1986
VW schafft eigene Erinnerungsstätte
Der Historiker Professor Hans Mommsen wird gebeten, eine eigenständige Forschungsgruppe zu bilden. 1996 wird die Studie "Das Volkswagenwerk und seine Mitarbeiter im Dritten Reich" veröffentlicht. Darüber hinaus macht sich der Autobauer bereits seit Anfang der 1990er-Jahre für den Aufbau internationaler Jugendbegegnungen in Mittel- und Osteuropa stark, wo die Zwangsarbeiter ursprünglich zu Hause gewesen sind. Ab 1991 fördern die Wolfsburger dort auch humanitäre Projekte. Mit zwölf Millionen D-Mark werden unter anderem Krankenhäuser sowie Einrichtungen zur psychosozialen Betreuung von NS-Opfern unterstützt.
VW beteiligt sich finanziell an der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz und führt Seminare durch. Am 9. Oktober 1991 wird am Eingang des Werks Wolfsburg ein Gedenkstein in Erinnerung an die Zwangsarbeiter enthüllt. 1995 wird in den Bunkern in Halle 1 eine Stätte des Gedächtnisses eingerichtet.
1998: Hilfsfonds für humanitäre Leistungen wird gegründet
Im Sommer 1998 verkündet VW, dass der Autokonzern konkrete Finanzleistungen für Zwangsarbeiter erbringen werde. Am 11. September 1998 gibt der Volkswagen-Konzern nach einer Aufsichtsratssitzung bekannt, unverzüglich einen "Hilfsfonds für humanitäre Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter“ gründen zu wollen. Der Fonds soll mit einem Budget von 20 Millionen D-Mark ausgestattet werden. In den Augen von VW ist er damit "gemäß unserem Kenntnisstand hinreichend dotiert".
Immer wieder wird in der Bundesrepublik über Entschädigungszahlungen gesprochen - und auch über deren Höhe. Darüber könne man lange nachdenken, sagt Professor Dr. Manfred Grieger von der Uni Göttingen im Gespräch mit dem NDR. Grieger hat viel zum Thema Zwangsarbeit geforscht und 1996 die VW-Studie zusammen mit seinem Kollegen Mommsen erstellt. "Es gibt keinen 'richtigen' Betrag", sagt er mit Blick auf diesen historischen Hintergrund. Geld könne das erlittene Leid letztlich nicht wettmachen. Es gehe um "ein öffentliches Zeichen zur Anerkennung historischer Menschenrechtsverletzungen, um die konkrete Hinwendung zu den Betroffenen und um die Übernahme von Verantwortung für den heutigen Umgang mit der Beteiligung an der Ausbeutung rechtlos gemachter Personen".
Positive Reaktionen - VW wird zum Vorreiter
"VW stellt sich seiner Geschichte", titelt die "Westdeutsche Zeitung", bei der "Zeit" heißt es "Ende eines Tabus". "VW bringt den Stein ins Rollen", schreibt die "Süddeutsche Zeitung" und zielt darauf ab, dass sich die Industrie der Entschädigung von Zwangsarbeitern anschließen solle. Doch zunächst geht Volkswagen diesen Weg allein.
Die öffentliche Reaktion auf diesen Schritt von VW sei "stark auffordernd und stark anerkennend" gewesen, erinnert sich Grieger. Bereits die Eröffnung einer eigenen Erinnerungsstätte habe große Zustimmung erfahren. VW habe "begonnen aufzuholen, was vorher versäumt wurde". Man könne von einer Vorreiterrolle sprechen.
Anzeigen in 22 Ländern geschaltet
1998 leben von ehemals 17.000 bis 20.000 VW-Zwangsarbeitern noch gut 2.000. Jeder Betroffene erhält 10.000 D-Mark. Und wie soll das Geld zu den überlebenden VW-Zwangsarbeitern kommen? "Um eine unbürokratische und zügige Zuwendung der Mittel zu gewährleisten, hat Volkswagen die KPMG Deutsche Treuhand-Gesellschaft AG mit der Durchführung der administrativen Aufgaben und der Zahlungsabwicklung beauftragt", teilt der Automobilbauer mit. Dazu seien in insgesamt 22 Ländern Anzeigen geschaltet worden, in denen die von Zwangsarbeit bei der damaligen Volkswagen-Gesellschaft Betroffene gebeten werden, sich an den Humanitären Fonds zu wenden. "Im Rahmen der Mommsen-Grieger-Studie waren ebenfalls Kontakte entstanden, da mehr als 200 Überlebende interviewt worden waren."
Dieser Fonds ist formell nie beendet worden. Daher gibt es auch keinen Abschlussbericht. "Niemand soll ausgeschlossen werden", erklärt Grieger. Um den Zugang zum Fonds zu erleichtern, habe es auch nur möglichst wenige Formalitäten gegeben. Die ehemaligen Zwangsarbeiter hätten ihre Tätigkeit bei VW lediglich "glaubhaft machen" müssen. Laut Volkswagen sind bislang Zahlungen an 2.119 Betroffene geleistet worden. "Aufgrund des hohen Lebensalters der Betroffenen kam es jedoch schon seit mehreren Jahren zu keiner Auszahlung mehr", teilt VW im Juli 2023 mit.
Stiftungsfonds der Industrie folgt
Die Volkswagen AG ist auch Mitbegründerin der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, die für einen von der deutschen Wirtschaft und dem Bund zusammengetragenen Fonds - mit einem Stiftungskapital von 10 Milliarden D-Mark bzw. 5,2 Milliarden Euro - die Mittel für individuelle Ausgleichszahlungen an Betroffene ab dem Jahr 2001 hälftig zur Verfügung stellt. Insgesamt beteiligen sich rund 6.500 Firmen an der Stiftungsinitiative. Der Deutsche Bundestag billigt am 6. Juli 2000 das von der Bundesregierung eingebrachte und mit allen Fraktionen abgestimmte Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Der Jüdische Weltkongress in New York begrüßt die Einrichtung damals als "historischen Schritt".
Aufarbeitung der Geschichte bleibt für VW wichtiger Baustein
Volkswagen sei sich "seiner Vergangenheit bewusst" und wolle die Erinnerung wach halten, so der Konzern, der sich eigenen Worten zufolge "in der Verantwortung [sieht], weiterhin an das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu erinnern, der Opfer zu gedenken und für Respekt, Toleranz und Vielfalt einzustehen".
So wird am 17. Dezember 1999 die überarbeitete Dauerausstellung "Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks" eröffnet. Außerdem wird eine Zeitzeugen-Schriftenreihe ins Leben gerufen. Damit werde die Geschichte der Zwangsarbeit "mit Veröffentlichung von Zeitzeugenberichten und von zeitgenössischen Dokumenten ebenso wie individuelle Lebensgeschichten für die breite Öffentlichkeit sichtbar", so VW. Darüber hinaus kommen bis weit nach der Jahrtausendwende ehemalige Zwangsarbeiter und deren Familienangehörige für Lesungen und Vorträge nach Wolfsburg.
Als Zeichen der Anerkennung der Lebensleistung ehemaliger Zwangsarbeiter schreiben die VW-Berufsausbildungen der Standorte Braunschweig, Emden, Hannover, Kassel, Salzgitter und Wolfsburg mit den Jugend- und Auszubildendenvertretungen des Betriebsrats wiederholt einen Preis für Respekt und Toleranz aus.