Stand: 07.06.2016 15:24 Uhr

Vor 30 Jahren: Demonstranten stundenlang eingekesselt

von Kathrin Weber, NDR.de

Die Besetzung der Häuser in der Hafenstraße und Proteste gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf: Mitte der 80er-Jahre ist die Stimmung in Hamburg angespannt. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Am 7. Juni 1986 blockieren die Beamten die Zufahrtswege zu einer geplanten Brokdorf-Demo. Dagegen will eine Gruppe von Atomkraftgegnern protestieren. Die etwas mehr als 800 Menschen versammeln sich am 8. Juni gegen 12 Uhr auf dem Heiligengeistfeld im Stadtteil St. Pauli.

Bis zu 13 Stunden eingeschlossen im "Kessel"

Die Polizei stuft die Demonstranten als gefährlich ein, vermutet unter ihnen Autonome, RAF- und Hafenstraßen-Sympathisanten und greift zu einem ungewöhnlichen Mittel. Mit mehreren Hundertschaften kreist sie die Gruppe ein und zieht den Ring immer enger, sodass keiner ihn verlassen kann.

VIDEO: 30 Jahre Hamburger Kessel (4 Min)

Obwohl schnell klar wird, dass die Eingekesselten überwiegend friedliche Demonstranten aus Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und Kirche sind, bleibt die Polizeiführung stur. Bis zu 13 Stunden müssen die Demonstranten auf dem Platz ausharren - teils unter unwürdigen Umständen. Weil die Polizei anfangs keine Toilettengänge zulässt, müssen sich viele vor aller Augen erleichtern. "Einige haben sich auch in die Hose gemacht", erinnert sich Rechtsanwalt Ernst Medecke, der damals als Referendar für eine Kanzlei tätig war und das Geschehen von außen beobachtete.

Erst weit nach Mitternacht transportiert die Polizei die letzten Demonstranten zu verschiedenen Wachen, um dort deren Personalien aufzunehmen.

Angemessen oder menschenunwürdig? Risse in der SPD

Der Vorfall, der als Hamburger Kessel in die Geschichte eingeht, löst nicht nur bundesweit Empörung aus, sondern stürzt auch die regierende Hamburger SPD in eine Krise. Während Innensenator Rolf Lange den Einsatz als "angemessen" verteidigt und der Polizei ein "entschlossenes und umsichtiges" Handeln attestiert, zeigt sich der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Bodo Schümann "erschüttert": "Was ich von über 50 Zeugen hörte, erinnert mich an Militärdiktaturen." Auch Sozialsenator Jan Ehlers und Energiesenator Jörg Kuhbier stellen sich öffentlich gegen Lange. Die Aktion auf dem Heiligengeistfeld sei "menschenunwürdig" gewesen, so Ehlers in einem offenen Brief. Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hält allerdings zu Lange und spricht ihm das Vertrauen aus.

Gericht: Polizeiaktion war rechtswidrig

"Hamburger Kessel" auf dem Heiliggeistfeld © dpa Foto: Werner Baum
Viele der Opfer aus dem Kessel sind traumatisiert von den Ereignissen und klagen gegen die Polizeiaktion.

Viele der Demonstranten wehren sich juristisch gegen die Einkesselung. Einige Hundert klagen, um die Rechtswidrigkeit der Aktion feststellen zu lassen, andere wollen Schmerzensgeld von der Stadt erstreiten und eine dritte Gruppe stellt Strafanzeige gegen den verantwortlichen Innensenator Lange und die Polizeiführung der Stadt wegen Freiheitsberaubung und Nötigung.

Das erste Urteil fällt im Oktober 1986: Das Hamburger Verwaltungsgericht erklärt die Einschließung der Demonstranten für rechtswidrig und bestätigt damit das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Ein Jahr später spricht das Landgericht den Opfern ein Schmerzensgeld von jeweils 200 D-Mark zu. Nach Ansicht der Kammer hätte die Polizei die Menschen nicht einkesseln dürfen: "Eine Versammlung wie diese Demonstration kann nur aufgelöst, aber nicht eingeschlossen werden."

Prozess gegen Polizeiführung endet mit Geldstrafen auf Bewährung

Das Strafverfahren hingegen zieht sich hin. Die Ermittlungen gegen Innensenator Lange werden eingestellt. Erst im Januar 1988 wird Anklage gegen die vier verantwortlichen Polizeichefs erhoben, das Urteil ergeht im Oktober 1991. Das Landgericht spricht sie der Freiheitsberaubung und Körperverletzung schuldig. Das Strafmaß fällt allerdings denkbar milde aus. Die Angeklagten müssen lediglich ein Bußgeld zahlen, eine Verurteilung zu einer Geldstrafe setzen die Richter zur Bewährung aus.

Auch von Seiten ihres Arbeitgebers haben die Beamten nichts zu befürchten, denn die Polizei leitet keine disziplinarischen Maßnahmen gegen sie ein. Zwei von ihnen werden später sogar befördert. Rechtsanwalt Ernst Medecke empfindet das als skandalös: "Es ist eine Riesensauerei, wie der Staat damals seine Leute gnadenlos gedeckt hat." Doch auch die angeklagten Beamten fühlen sich vom Senat im Stich gelassen. "Irgendwann gingen alle Politiker auf Tauchstation", beklagt Polizeipräsident Alfred Honka vor Gericht.

Kritische Polizisten organisieren sich

Aber nicht alle Beamten verteidigen den Polizeieinsatz auf dem Heiligengeistfeld. Einige sehen darin ein eindeutig rechtswidriges Verhalten und gründen nach der umstrittenen Aktion 1987 die Bundesgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten. Die Organisation besteht bis heute.

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