Stand: 16.03.2019 11:46 Uhr

Verbrecherkeller: Wo Hamburgs Ganoven strandeten

Todtenseppel, Schinderhannes und Indianer-Albert sitzen auf roh gezimmerten Bänken, geben sich die Kante und würfeln um das nächste Bier. Leichte Mädchen wie Husarenberta, Gelbe Hyäne oder Weiße Taube bieten ihre Dienste an, während das Akkordeon dudelt. Willkommen im Verbrecherkeller, Hamburgs berüchtigsten Spelunke um die Jahrhundertwende! In der Kneipe im Altstadt-Gängeviertel landen die Gestrandeten. Der Schnaps fließt in Strömen. Saufen bis zur Erschöpfung - und wer die zehn Pfennig Schlafgeld zusammenkratzt, darf auf dem nasskalten Fußboden eines Hinterzimmers pennen.

Heute Wohlstand, früher Elend

So oder ähnlich hätte eine Nacht im Verbrecherkeller verlaufen können. Die Kaschemme liegt in der Niedernstraße, Ecke Depenau, dort, wo heute das Chilehaus steht. Wer an den schicken Geschäften im Kontorhausviertel der Hamburger Innenstadt vorbei spaziert, ahnt nicht, was ihn an diesem Ort vor mehr als einhundert Jahren erwartet hätte. Wo inzwischen Wohlstand herrscht, hat es früher nur Elend gegeben.

Ratten und Mäuse in den "Abruzzen"

Verwinkelte Twieten schlängeln sich durch das Gängeviertel der Altstadt, das damals zu den größten Slums in Europa gehört. Etwa 20.000 Menschen leben hier auf engstem Raum. Das Areal ist so dicht bebaut, dass nicht einmal ein Handwagen durch die Gänge passt. In der Mitte der engen Wege nimmt eine Rinne den Unrat auf - und so liegt ständig ein beißender Gestank in der Luft. Eine funktionierende Kanalisation fehlt in dem Viertel, das von den feinen Hamburgern abfällig nur "Abruzzen" genannt wird.

In Fachwerkhäusern leben bis zu 25 Arbeiterfamilien in winzigen Wohnungen, die nur durch eine dünne Bretterwand voneinander getrennt, feucht und voller Ungeziefer sind. Es wimmelt von Mäusen und Ratten. Das Viertel ist ein Herd für Krankheiten. Vor allem Kinder erkranken an Scharlach, Diphterie, Keuchhusten und Masern und leiden an Mangelkrankheiten wie Rachitis. Bei einer Choleraepidemie im Jahr 1892 sterben mehr als 8.500 Menschen. Väter schicken ihre Kinder zum Betteln und Stehlen hinaus. Das Areal hat Probleme mit Prostitution, ausschweifendem Alkoholkonsum und Kriminalität - und das Zentrum der Misere bildet die Niedernstraße mit ihrem Verbrecherkeller.

Schlupfwinkel der Ganoven

Hierhin kommen Ganoven, die tagsüber stehlend umherlungern - sie werden Hamburger Buttje, Taugenichtse genannt. Tag und Nacht sind die Fenster des Verbrecherkellers mit Lumpen und Strohsäcken behängt oder mit Brettern vernagelt.

Menschen, die sich hierhin verirrt haben, werden von der Straße eingeschleppt, in einen dunklen Raum gezerrt und bei Musik und Rundtanz ausgeraubt. Wer sich wehrt, erhält Prügel - und wer sich nicht wehrt ebenfalls. Anschließend jagen die Kriminellen ihre Opfer nach draußen, wo sie der Schmutz der Niedernstraße empfängt. Die Täter werden so gut wie nie gefasst - und falls doch, setzt es Hiebe. Denn bei der Polizei liegt der Gummiknüppel locker in der Hand.

Stumpfsinn und Verzweiflung

Der Oberbaurat W. Mehlhop schildert in seiner "Historischen Topografie der Freien und Hansestadt Hamburg von 1895 bis 1920" eindrücklich die Zustände in der Niedernstraße.

"Tag und Nacht trieb sich in der Niedernstraße viel Gesindel umher, sodass sie stets von polizeilichen Doppelposten bewacht werden musste. In verrufenen Kellerräumlichkeiten hausten dort das Laster, der Stumpfsinn und die Verzweiflung, das Elend und der Abschaum des großstädtischen Lebens […] Selbst mitten in der Nacht konnte man hier noch Kinder auf der Straße antreffen." Oberbaurat W. Mehlhop

Zu Ausbildungszwecken kommen Justizreferendare extra in die Niedernstraße. Mit Schaudern betrachten sie den Hort des Verbrechens - natürlich nur in Begleitung der Polizei. Im Jahr 1906 besuchen sogar Teilnehmer eines internationalen Kriminalistenkongress das Gängeviertel der Altstadt und bekommen so einen lebendigen Eindruck von der Unterwelt.

Hamburg und seine Gängeviertel

Von dem einen Hamburger Gängeviertel zu sprechen, ist falsch. Korrekt müsste es "die Gängeviertel" heißen. Denn die eng bebauten Wohnquartiere entstanden im 16. und 17. Jahrhundert in einigen Teilen der Altstadt und Neustadt. Nach einer Choleraepidemie im Jahr 1892 wurde entschieden, die Gängeviertel abzureißen. Heute erinnert lediglich das moderne Gängeviertel rund um den Valentinskamp an die frühere Häuserbebauung. Seit 2011 steht das Areal unter Denkmalschutz - nachdem Künstler, Anwohner und Initiativen gegen den Ausverkauf protestiert hatten.

Postkarten für die Touristen

Völlig zurecht ist das Image des Viertels miserabel. Doch der Wirt des Verbrecherkellers versucht aus dem fragwürdigen Ruf Kapital zu schlagen. Er lässt im Jahr 1905 eine ganze Fotoserie für Postkarten in seiner Kneipe anfertigen. Es ist nicht überliefert, was der Fotograf getan hat, um die lichtscheuen Banditen vor seine Linse zu bekommen. Bestechung mit dem ein oder anderen Lütt un Lütt (Korn und kleines Bier)? Nicht ganz abwegig, wenn man die verschiedenen Postkarten betrachtet. Auf den Vorderseiten jedenfalls sehen die Zwielichtigen gar nicht mal so übel gelaunt aus. Auf der Rückseite gibt es zudem ein paar Informationen zum Verbrecherkeller - und das in acht verschiedenen Sprachen, damit die Postkarten auch von Touristen gekauft werden.

1913: Schicht im Schacht

Nach Erscheinen der Postkarten geht das Saufgelage im Verbrecherkeller noch acht Jahre weiter, bis er im Jahr 1913 im Zuge des Abriss des gesamten Altstadt-Gängeviertels zerstört wird. Auf den Trümmern entsteht die neue Hamburger Innenstadt mit Prachtstraßen und riesigen Kontorhäusern wie dem Chilehaus - und die lege Lüüd (schlechte Leute) wie Todtenseppel oder Husarenberta müssen sich ein anderes Etablissement für den nächsten Exzess suchen.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 09.06.2018 | 19:30 Uhr

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