Von SS ermordetes Kind wird 2015 nach 70 Jahren identifiziert
In der Nacht vom 20. zum 21. April 1945 erhängten SS-Leute in einer Hamburger Schule 20 jüdische Kinder. 2015 spürte eine Israelin die Schwester des ermordeten Walter Jungleib auf, die vom Schicksal ihres Bruders nicht gewusst hatte.
Wer war "W. Junglieb"? Diese Frage hat Bella Reichenbaum nach ihrem Besuch der Hamburger Gedenkstätte Bullenhuser Damm im Jahr 2015 nicht mehr losgelassen. "W. Junglieb" steht auf einem der 20 Koffer, die dort in einer Ausstellung an die jüdischen Kinder erinnern, die von den Nazis für medizinische Experimente missbraucht und später im Keller der ehemaligen Schule im Stadtteil Rothenburgsort erhängt wurden. Reichenbaum und ihr Mann Jitzhak reisten bis zu ihrem Tod 2020 regelmäßig von Israel aus dorthin, um Jitzhaks Bruders Eduard zu gedenken, der eines der ermordeten Kinder war.
Tragödie am Bullenhuser Damm
Direkt neben Reichenbaums Erinnerungskoffer, der von dem mit Fotos illustrierten Schicksal des Jungen erzählt, liegt der von "W. Junglieb" - ohne Fotos und mit kurzem Text. Denn bis dato war über dieses Kind nur bekannt, dass es angeblich aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte und zwölf Jahre alt war, als es am Bullenhuser Damm starb. Dank der Recherche von Bella Reichenbaum wurde der Koffer neu gestaltet. Denn sie fand heraus, wer "W. Junglieb" war - und stellte Kontakt zu dessen Schwester her.
Wie Reichenbaums Nachforschungen ergaben haben, hieß "W. Junglieb" mit vollem und richtigem Namen Walter-Jacob Jungleib und stammte aus Hlohovec, das nicht etwa im ehemaligen Jugoslawien liegt, sondern in der heutigen Slowakei. Seine Schwester Grete Hamburg war in der Nähe von Tel Aviv gezogen, etwa 100 Kilometer vom Wohnsitz der Reichenbaums entfernt. Auch sie wusste bislang nichts vom Schicksal ihres Bruders, sondern ging davon aus, er sei bei einem Todesmarsch von Auschwitz gestorben.
Schwester "erschüttert und fassungslos"
Im Oktober 1944 war Grete zunächst gemeinsam mit ihrem Bruder und den Eltern deportiert worden, dann wurden sie und ihre Mutter von Vater und Bruder getrennt. "Walter hatte seine Kappe vergessen und ist zurückgekommen, um sie zu holen. Danach war er der Letzte in der Reihe, hat sich umgedreht, gewinkt und gelächelt, und das war das letzte Mal, dass meine Mutter und ich Walter gesehen haben", schrieb sie in einem Brief an die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Angesichts der neuen Erkenntnisse zum Tod ihres Bruders sei sie "erschüttert und fassungslos" und könne ihre Gefühle nicht in Worte fassen, sagte sie 2015.
Komplizierte Recherche
Auch die Mitarbeiter der Gedenkstätte waren damals "berührt und überwältigt", wie es Iris Groschek ausdrückte, die unter anderem die Ausstellung am Bullenhuser Damm kuratiert hat. Generell sei es sehr schwierig gewesen, die Namen und Schicksale der ermordeten Kinder zu rekonstruieren. "Und dass wir nach 70 Jahren tatsächlich noch die Geschichte eines weiteren Kindes erfahren, hätten wir nicht gedacht."
Denn die Hamburger Nazis um den Arzt Kurt Heißmeyer wollten kurz vor Kriegsende sämtliche Spuren ihrer Gräueltaten so weit wie möglich verwischen. Entsprechend konnte anfangs keines der erhängten Kinder identifiziert werden. Doch dann stießen die Rechercheure auf die Aufzeichnungen eines dänischen Ex-Häftlings aus dem KZ Neuengamme, wie Groschek berichtet. Der Zeitzeuge habe die Nachnamen sämtlicher für die medizinischen Experimente missbrauchten Kinder mit deren Alter und Herkunftsort notiert. Später fand sich eine von Heißmeyer verfasste Liste mit den Initialen der Mädchen und Jungen. "Und eines von ihnen wurde fortan eben als W. Junglieb bezeichnet."
Aus Junglieb wird Jungleib
Beim Notieren des Nachnamens hatte sich der dänische Zeitzeuge offenbar verschrieben. Denn als Bella Reichenbaum im Frühsommer 2015 nach Spuren suchte, stieß sie auf der Liste eines Häftlingstransports von Auschwitz nach Lippstadt (Westfalen) auf zwei Frauen mit dem Nachnamen Jungleib - und fand die Ähnlichkeit mit Junglieb zu stark, um darüber hinwegzusehen. Sie recherchierte weiter und entdeckte auf der Webseite der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem eine Erinnerungskarte, die einem Walter Jungleib gewidmet war - und auf der sich Angaben zu dessen Angehörigen fanden. Per E-Mail kontaktierte Reichenbaum Grete Hamburg, die ihre Vermutung bestätigte. Von da an stand Walter Jungleibs Schwester im Austausch mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. "Sie hat uns bereits einige Informationen und Fotos geschickt", sagte Groschek 2015. In der Folge konnte die Ausstellung um Walters Geschichte ergänzt werden.
Am 20. April 2016 wurde die Junglieb-Straße in Hamburg-Eimsbüttel offiziell umbenannt - in Walter-Jungleib-Straße. Dessen Schwester Grete war damals anwesend.