Stand: 04.11.2019 07:00 Uhr

Ein Land, zwei Perspektiven: Flucht über die vereiste Elbe

von Elisabeth Weydt
Die Elbfähre bei Neu-Darchau © NDR / Elisabeth Weydt Foto: Elisabeth Weydt
Nur ein paar Meter Fluss trennten bei Neu Darchau Ost und West. Heute fährt eine Fähre über den Fluss.

Der Westen, das war für Bernd Müller jahrelang ein Sehnsuchtsort. Seine Erinnerungen daran liegen mehr als 50 Jahre zurück. "Als ich noch auf der Ostseite lebte, hat man wohl gewusst, wie es in Westdeutschland aussieht durch Erzählungen, durch Fernsehen und so weiter. Man hat die schönen Häuser gesehen, man hat die Autos fahren sehen, man hat auch Boote fahren sehen, die recht luxuriös aussahen, auf der Elbe", erinnert sich Bernd Müller. Vom Westen trennte ihn nur die Elbe, der Grenzfluss. "Wenn Volksfeste waren auf der Westseite, hörte man alles. Und bei jedem Mal wuchs irgendwie die Sehnsucht mehr, dorthin zu gelangen."

Im Nebel die Orientierung verloren

Im Januar 1970 wurde die Sehnsucht zu groß. Zusammen mit einem Freund wagte sich Bernd Müller über die zugefrorene Elbe - im heutigen Landkreis Lüchow-Dannenberg. Erst gingen sie im Nebel verloren, dann erreichten sie doch noch ein Ufer. Aber die beiden Flüchtlinge waren sich nicht sicher, ob sie die Ost- oder Westseite erreicht hatten. Sie klopften an die erstbeste Tür. Es war die Tür der Gierings in Neu Darchau im Westen. "Am 7. Januar 1970 war das, als es an der Tür klingelte. Ich hatte Geburtstag und unsere Tochter, unsere Älteste hat geöffnet", erzählt Bärbel Giering. Durchnässt und eingehüllt in Bettlaken standen die beiden Männer vor der Tür - und wurden mit trockenen Strümpfen und Kuchen empfangen.

Bärbel und Hartmut Giering © NDR / Elisabeth Weydt Foto: Elisabeth Weydt
Bärbel und Hartmut Giering waren die ersten Menschen, die Bernd Müller im Westen traf.

Seitdem bekommt Bärbel Giering jedes Jahr eine ganz besondere Geburtstagskarte. Eine Karte, die sowohl ihre Geburt als auch die geglückte Flucht von Bernd Müller feiert. Bärbel Giering war 1945 selbst als Flüchtling von Frankfurt/Oder nach Neu Darchau gekommen. Hätte ihre sich Mutter damals auf der anderen Elbseite niedergelassen, wäre auch sie in der DDR groß geworden. "Drüben wollte ich nicht leben und ich war wirklich froh, dass ich auf dieser Seite der Elbe gelebt habe. Auch wenn es hier nicht so leicht war, aber drüben war es viel schwerer. Zu wissen, dass eventuell vielleicht sogar die Post aufgemacht und durchgelesen wird, das fand ich alles schlimm."

Nach seiner Flucht über die Elbe ging Bernd Müller zunächst nach Bremen und Bayern, um dort als Lehrer zu arbeiten. Nach dem Mauerfall zog es ihn zurück in seine alte Heimat im Osten. Auch fast 50 Jahre nach der Flucht hat das Ehepaar Giering noch immer Kontakt zu ihm. Im nächsten Januar wollen sie das Fluchtjubiläum feiern. Bernd Müller will sie besuchen kommen, er ist heute 76 Jahre alt.

Vertreibungen im Sperrgebiet

Dort, wo Bernd Müller vor 50 Jahren über die zugefrorene Elbe kam, kann man heute einfach mit einer Fähre übersetzen. Bärbel Giering zeigt auf die Ostseite: "Gerade hier sind so viele Häuser abgerissen worden. Von einer Nacht zum anderen Morgen mussten die Leute ihr Haus verlassen. Das war so tragisch." 1952 wurden im innerdeutschen Grenzgebiet mehr als 8.000 Menschen zwangsumgesiedelt. "Aktion Ungeziefer" nannte das die DDR. 

Gisela Rautenkranz hat das miterlebt. Im ehemaligen Sperrgebiet der DDR, direkt hinter dem heutigen Fähranleger liegt das Gutshaus ihrer Familie. Seit dem 17. Jahrhundert leben sie hier. Von den DDR-Behörden wollte die Familie nicht vertreiben lassen - ihr Gutshaus konnte sie behalten, durften aber keine Gaststätte betreiben. Umso erleichterter war Gisela Rautenkranz als die Mauer fiel: "Da war kein Halten mehr. Das war schon ein Erlebnis. Das Gefühl! Vergisst man nie. Erst war es verboten und mit einem Mal darfst du wieder den Weg zur Elbe runtergehen."

Sperrstunde ab 21 Uhr

Das Haus der Familie Rautenkranz direkt am Elbdeich. © NDR / Elisabeth Weydt Foto: Elisabeth Weydt
Das Haus der Familie Rautenkranz liegt direkt am Elbdeich.

Das Leben im Sperrgebiet sei hart gewesen, erinnert sich die 88-Jährige. Sperrstunde ab 21 Uhr, überall Schlagbäume und Kontrollen, die Zwangsumsiedlungen. Sie kannte Bernd Müller und wusste von seinen Fluchtplänen. Das Geheimnis hat sie bewahrt. "Du kanntest deine Leute, wo du mal den Mund aufmachen konntest. Aber glauben Sie nicht, dass in einem öffentlichen Laden jemand mal einen Ton gesagt hat, was nicht gerade genehmigt war. Die Angst saß immer im Nacken." Direkt im ersten Jahr nach dem Mauerfall hat Familie Rautenkranz wieder ihre Gaststätte eröffnet. Heute ist sie ein beliebtes Ausflugslokal. Im Großen und Ganzen sei sie zufrieden mit der Wiedervereinigung, sagt Gisela Rautenkranz. Ihr Resümee 30 Jahre nach dem Mauerfall? "Nie wieder so einen Staat! So eine Diktatur, nie wieder. Die Leute wissen ja gar nicht, wie gut es denen geht in Wirklichkeit."

 

 

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NDR Info | Aktuell | 04.11.2019 | 06:20 Uhr

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