"Der Begriff SED-Diktatur trifft es besser"
War die DDR ein Unrechtsstaat? Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) hat mit Blick auf den 70. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober gesagt, den Begriff würde sie nicht verwenden. Der Staat sei zwar eine Diktatur gewesen, die DDR aber als Unrechtsstaat zu bezeichnen, werde von vielen Ostdeutschen als Herabsetzung ihrer Lebensleistungen empfunden. Unterstützung bekommt sie von dem Historiker Jens Hüttmann. Der gebürtige Hamburger arbeitete zwölf Jahre lang für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. Dort war der 44-Jährige Leiter der schulischen Bildungsarbeit. Seit Mai 2018 ist er stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg. "Unrechtsstaat" als Bezeichnung sei undifferenziert und würde der DDR die Vielfalt nehmen, sagt er im Interview mit NDR.de.
Zum Jahrestag der DDR-Gründung vor 70 Jahren ist die Debatte um den Begriff "Unrechtsstaat" erneut aufgebrochen. Was definiert einen Unrechtsstaat überhaupt?
Jens Hüttmann: Mit der Definition gehen die Probleme bereits los. Denn es ist kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein politisch-moralischer, geschichtlich geprägt. Er ist also relativ schwierig zu definieren. Ich würde sagen, alles was ein Unrechtsstaat umfasst, ist nicht rechtsstaatlich. Für die DDR wurde der Begriff immer mal wieder benutzt, aber entscheidend und ausreichend aus Sicht der Forscherinnen und Forscher, die sich mit der Geschichte der DDR beschäftigen, ist die Formulierung "SED-Diktatur". Das ist der etablierte Begriff.
Zudem schwingt mit, in der Bundesrepublik (BRD) sei alles gut und in der DDR alles schlecht gewesen. Das ist historisch zu einfach. Denn in beiden deutschen Staaten gab es Defizite, zum Beispiel zunächst eine große Verdrängung der NS-Verbrechen. Die Aufarbeitung kam aber im Westen erst spät in Gang, im Osten war sie von Anfang an politisch überlagert.
Diktatur, Unrechtsstaat: Ist das Ergebnis für die Menschen, die dort leben, nicht dasselbe?
Hüttmann: Natürlich kann man sich fragen, ob nicht jede Diktatur immer ein Unrechtsstaat ist, indem sie Freiheiten verweigert. Die hat ja auch Frau Schwesig aufgezählt: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit. All das existiert in einer Diktatur nicht und man könnte sagen, dass es dann ein Unrechtsstaat ist. Aber Diktatur ist der analytischere Begriff.
Wieso ist das so, was ist an dem Wort Diktatur besser?
Hüttmann: Unrechtsstaat nimmt nur das Unrecht in den Blick. Die Frage ist, ob man damit die Vielfalt der DDR in den Blick bekommt. Bei Unrecht denkt man an Stasi, die Mauer, Stacheldraht. Die DDR-Forschung wusste aber schon vor 1990, dass man zum Verstehen der DDR auch andere Faktoren einbeziehen muss: das Alltagsleben vor allem. Wie brachte man Menschen damals dazu, mitzumachen im Herrschaftssystem? Denn nicht alles passierte über Zwang und Einschüchterung, sondern eben auch aus Überzeugung und der Motivation zum Mitmachen. Unrechtsstaat als Begriff ist also deutlich unschärfer als Diktatur. Der Begriff zielt nur auf bestimmte Aspekte der DDR, was die Diskussion verengt.
Wird "Unrechtsstaat" wirklich als herabsetzend empfunden von Ostdeutschen? Sehen sie ihre Lebensleistung dadurch geschmälert, wie Schwesig behauptet?
Hüttmann: Untersuchungen dazu sind mir nicht bekannt. Aber der Begriff ist eben polemisch und polarisierend. Er fördert Schwarz-Weiß-Denken. Damit fällt dann die Klappe. Mehr braucht man nicht wissen. Wer sich aber ernsthaft mit der Geschichte beschäftigen und verstehen will, wie die DDR 40 Jahre lang existiert hat, der muss mehr begriffliche Schärfe in den Ring werfen als einen polemischen Begriff.
Ich würde im Unterschied zu Frau Schwesig aber nicht von ostdeutschen Lebensleistungen sprechen, sondern von Empathie gegenüber den Schwierigkeiten, in einer Diktatur zu überleben. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat 2006 dafür mal ein, wie ich finde, schönes Beispiel benutzt, das den komplizierten Alltag illustriert hat: Er hat von Marie gesprochen, einem fiktiven Mädchen in der DDR, das gerne Thälmann-Pionierin werden würde. Und sie möchte natürlich wie ihre Freunde auch das Halstuch tragen. Ihre Eltern suchen aber Distanz zum Staat und befürchten, ihr Kind könnte zu einem "vorbildlichen sozialistischen" Menschen erzogen werden. Die Eltern sind also in der Zwickmühle: Wird Marie zur Außenseiterin und kann vielleicht später mal nicht studieren? Oder handeln sie entgegen ihrer Überzeugung? Wie man sich verhält, es ist immer falsch. Das meine ich mit schwierigen Bedingungen, für die es Empathie geben muss.
Den Begriff "Unrechtsstaat" hat Fritz Bauer in Bezug auf den Nationalsozialismus geprägt. Der Generalstaatsanwalt im Nachkriegs-Deutschland argumentierte in einem NS-Prozess in Braunschweig 1952, Widerstandskämpfer seien rechtmäßig gewesen, da sie sich gegen den "Unrechtsstaat" wandten. Für Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ist diese Verbindung des Begriffs mit der NS-Diktatur einzigartig.
Hüttmann: Ich neige ebenfalls zu der Ansicht, dass der Begriff für den Nationalsozialismus steht und auf den Holocaust, die NS-Verbrechen und den Vernichtungskrieg im Osten hinweist. Er ist von Fritz Bauer geprägt und mit dem Diskurs der 50er-Jahre verbunden.
Wieso ist es wichtig, zwischen Nazizeit und DDR zu unterscheiden bei der Verwendung der Zuschreibung?
Hüttmann: Im historischen Kontext war der Begriff das erste sichtbare Zeichen der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Benutzt man den Begriff auch für die DDR, macht er die Taten gleich. Der Zivilisationsbruch der NS-Diktatur ist aber einzigartig.
Sie betreiben in der Landeszentrale politische Bildung. Wie gehen Sie in dem Bereich mit den Begriffen um?
Hüttmann: Für die politische Bildung ist der Begriff "Unrechtsstaat" unbrauchbar. Er schaltet jegliche Multiperspektivität und kontroverse Meinungen aus. Mit dem Begriff Diktatur kann man viel besser arbeiten und fragen: "Was für eine Diktatur war es: totalitär, modern oder kommod?
Empirische Studien zeigen, dass junge Leute sich sehr für das Alltagsleben in einer Diktatur interessieren. Wie war die Schule, wie fand man einen Beruf? Wie kam es zu den riesigen Protesten 1989? Mit dem Begriff Unrechtssaat aber sind gefühlt alle Fragen beantwortet.
Gibt es auch heute noch Länder, die Sie als Unrechtsstaat bezeichnen würden?
Hüttmann: Ich würde selbst bei Nordkorea sagen, der Begriff Unrechtsstaat greift zu kurz. Weil auch dort die Menschen im Alltag sich selbst organisieren und der Staat sich stark verändert hat seit den 90er-Jahren. Eine Diktatur im Wandel ist das, würde ich sagen. Aber Unrechtsstaat nimmt die Dynamik aus dem Blick. Ich würde ihn daher für keinen Staat verwenden.
Das Interview führte Carolin Fromm.