Wie Jugendliche in der DDR-Psychiatrie litten
Sein halbes Leben war Axel Niebel weggesperrt. Den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in drei Kinderheimen, zwei geschlossenen Psychiatrieabteilungen im Vogtland und in Stralsund und später in einem Pflegeheim für Behinderte - obwohl er kein Pflegefall war. Lern- und Anpassungsschwierigkeiten nach einem Sturz aus einem Fenster im vierten Stock wurden dem Heimkind Axel zum Verhängnis. "Heute kriegst du Nachhilfeunterricht, einen Pädagogen an die Hand. Ich hab' eben Pech gehabt und kam in die Psychiatrie", sagt Axel und lacht verhalten.
"Wer glaubt schon einem Idioten?"
Kein Schulunterricht mehr nach der 6. Klassenstufe, keine Therapie, stattdessen prägten Gewalt, Gehorsam und Arbeit fortan seinen Alltag. Er erinnert sich, wie ein Pfleger ihn an den Haaren durch den Flur schleifte, sodass Büschel davon auf dem Boden lagen. Er sammelte sie auf, steckte sie in eine Tüte als Beweis für die Misshandlung. "Aber gegen ein Personal aus der Psychiatrie? Wer glaubt einem Idioten aus der Psychiatrie?"
Patienten wurden ohne rechtliche Grundlage fixiert
Der Psychiater Jan Armbruster, der seit vielen Jahren zur Geschichte der Psychiatrie in Stralsund forscht, weiß, dass viele ehemalige Patienten bis heute Angst davor haben, über ihre Erlebnisse zu berichten, erst recht gegenüber einem Psychiater. Im Keller des Stralsunder Hanseklinikums steht noch ein altes Netzbett. In einem solchen Bett wurde auch Axel Niebel in den 80er-Jahren fixiert. Ohne jede rechtliche Grundlage. "Ich weiß auch nicht, wie ich das ausgehalten habe", sagt er.
Stiftung hilft Betroffenen
Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Mecklenburg-Vorpommern, kennt mittlerweile jede Menge solcher Berichte. In ihrer Geschäftsstelle ist seit Januar 2017 eine Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" angesiedelt. Sie soll erlittenes Unrecht und Leid anerkennen, wissenschaftlich und öffentlich aufarbeiten und durch finanzielle Hilfe zumindest abmildern.
"Gerade diese so unfassbare Geschichte mit dem Netzbett wird uns in vielen, vielen Gesprächen erzählt. Viele Kinder und Jugendliche - man muss sich vorstellen: das waren Minderjährige - mussten solche Zwangsmaßnahmen in verschiedenen Einrichtungen erleben." In den Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung können sich Betroffene, die als Kinder und Jugendliche in Behindertenheimen und Psychiatrien Schlimmes erlebt haben, noch bis zum 31. Dezember 2019 melden.
Bislang haben das in Mecklenburg-Vorpommern rund 200 Menschen getan. Die meisten sind nicht mobil, müssen in Pflegeeinrichtungen und Kliniken aufgesucht werden. Sie erleben erstmals in dem geschützten Rahmen des Beratungsgesprächs, dass ihnen geglaubt wird. Die Betroffenen erhalten von der Stiftung, so ihre Schilderungen glaubhaft sind, eine einmalige Geldzahlung sowie eine einmalige Rentenersatzleistung, sofern sie nicht sozialversicherungspflichtig in Behinderteneinrichtungen gearbeitet haben.
Wiedererlangung von Würde statt Wiedergutmachung
Viel wichtiger ist ihnen jedoch die Anerkennung ihres Schicksals. Es geht nicht um Wiedergutmachung, sondern um die Wiedererlangung von Würde, meint der Stralsunder Psychiater Harald Freyberger. In der DDR waren psychiatrische Einrichtungen ebenso wie Behindertenheime ökonomisch extrem schlecht ausgestattet. "Patienten lebten auf Baustellen, in Bruchbuden mit altem Mobilar, mit schlechter Personalausstattung", sagt Freyberger. In der alten Bundesrepublik waren die Zustände in den Einrichtungen vergleichbar schlecht, bis sich ab Ende der 60er-Jahre grundsätzliche Reformen durchsetzten - Therapieansätze und Angebote der Förderung, die in der DDR teils auch aus ideologischen Gründen ausblieben.
"Ein Armutszeugnis für den Sozialstaat DDR", meint Stasi-Landesbeauftragte Drescher und ein weitgehend noch unerforschtes Thema. Sie rechnet derzeit mit etwa 1.500 Menschen, die allein in Mecklenburg-Vorpommern einen Anspruch auf finanzielle Hilfen der Stiftung hätten. Eine grobe Schätzung. Ein Schicksal hat Drescher besonders bewegt. Das eines Mädchens, das viele Jahre in unterschiedlichen Behindertenheimen einfach nur "verwahrt" wurde und plötzlich nach dem Ende der DDR durch Fördermaßnahmen sprechen lernte. Axel Niebel ist heute 54 Jahre alt und Sicherheitschef bei den Störtebeker-Festspielen in Ralswiek auf Rügen - auch ohne Schulabschluss.