1991: Nicola stirbt auf der Stresemannstraße
Am 27. August 1991 überrollt ein Lkw auf der Stresemannstraße die neunjährige Nicola. Auf ihren Tod folgen wochenlange Proteste. Anwohner erreichen damit die Einrichtung einer Tempo-30-Zone.
Es ist ein sonniger Nachmittag in Hamburg, als aus der "Strese" die Straße der Trauer wird: Der 27. August 1991, Nicola S. fährt mit ihrem rosa Fahrrad die Bernstorffstraße entlang - eben war sie noch bei ihren Großeltern, dort lebt sie seit anderthalb Jahren. Jetzt will sie ihre Mutter in Harvestehude besuchen. Zum Friseur in der Grindelallee soll es gehen, danach Entenfüttern an der Alster. Nicola, neun Jahre alt, wartet an der Ampel, um die Stresemannstraße zu überqueren. Als das grüne Licht erscheint, tritt sie in die Pedale und fährt auf die Fahrbahn. Da rast ein 40-Tonnen-Lastwagen auf Nicola zu und überrollt sie. 50 Meter weiter kommt der Lkw mit quietschenden Reifen zum Stehen. Das Mädchen stirbt an der Unfallstelle.
Im Kurzbericht der Hamburger Landesverkehrsverwaltung heißt es später: "Der Fahrer war 25 Jahre alt. Er beachtete nicht die Verkehrsregelung der LZA und fuhr zu schnell." Zeitungsberichten zufolge fuhr der Lkw-Fahrer aus Dresden übermüdet und unter Zeitdruck über die rote Ampel. Vor Gericht wird er später aussagen: "Das Umschalten von Grün auf Gelb habe ich nicht wahrgenommen, ich habe mich auf den Verkehrsfluss konzentriert."
Ein Unfall mit politischen Folgen
Die Nachricht von Nicolas Tod verbreitet sich schnell: Bereits eine Stunde später blockieren rund 120 Menschen - unter ihnen viele Kinder - die Kreuzung. Sie wollen nicht akzeptieren, dass der Verkehr weiterfließt, als sei nichts geschehen. Ein weißes Kreuz wird auf den Asphalt gemalt, Blumen niedergelegt, Kerzen entzündet. Die Stadtentwicklungssenatorin Traute Müller (SPD) eilt zu den Aktivisten und hört sich ihre Forderungen an: Tempo 30, den Rückbau der Stresemannstraße auf zwei Spuren, fest installierte Blitzer und zusätzliche Ampeln - auf einer Verkehrsader, die täglich von 40.000 Autos, darunter 6.000 Lkw befahren wird. Zwischen Juni 1979 und August 1991 kommen hier 15 Fußgänger bei Unfällen ums Leben.
Nicolas Tod: Anlass für Aktionen in ganz Hamburg
Zwei Wochen lang dauert der Protest auf der Stresemannstraße: Stets um 16 Uhr, zur Todesstunde von Nicola, wird sie mit Barrikaden verschlossen, sodass der Verkehr umgeleitet werden muss. Die Polizei räumte die Blockaden nicht. Die Beamten der Wache Lerchenstraße, die rund 200 Meter vom Unfallort entfernt liegt, zeigen sogar offen ihre Sympathien für die Demonstranten. Nicolas Tod ist in der Folge Anlass für weitere Aktionen in ganz Hamburg gegen eine verfehlte Verkehrspolitik: So blockieren Bürgerinitiativen Ende September mehr als 25 Kreuzungen im Stadtgebiet. Motto: "Überall ist Stresemannstraße".
Anwohner Reifschläger erinnert sich
Jürgen Reifschläger verlädt Warenkisten mit einem Gabelstapler im Hamburger Hafen, als Nicola stirbt. Bei der Rückkehr von seiner Arbeit sieht er, was vor seiner Haustür los ist. "Da waren Blumen und viele wütende, fassungslose Menschen auf der Straße", erzählt der heute 65-Jährige. Noch immer wohnt er schräg gegenüber vom damaligen Unfallort. Seine drei Töchter sind inzwischen längst ausgezogen. An die Zeit nach dem Unglück kann er sich aber noch genau erinnern - und an das mulmige Gefühl, seine Töchter mit den Drahteseln auf die Straße zu lassen - auch wenn er sie stets ermahnt hat, sie sollen vorsichtig sein. "Ich konnte die Mädels ja nicht einsperren, war aber immer froh, wenn sie heil nach Hause gekommen sind."
Am Tag der Beerdigung: 500 Menschen auf der "Strese"
Ein vorläufiger Höhepunkt der Proteste im Spätsommer 1991 ist der 5. September, der Tag, an dem Nicola beerdigt wird: 500 Menschen versammeln sich auf der Stresemannstraße. Die Umweltschutzorganisation Robin Wood stellt Betonkübel auf die Fahrbahn. Die Verkehrsinsel ist in Kürze mit Blumen überhäuft. Ein Pastor und zwei Mütter, die nahe der Kreuzung wohnen, halten Reden. Eine der beiden Frauen hat den Unfall unmittelbar beobachtet. In der linksalternativen "tageszeitung" wird sie mit den Worten zitiert: "Wir sind keine Demonstranten, sondern Mahnende und Trauernde. Ich verstehe nicht viel von Gesetzen. Aber so viel weiß ich: dass wir sie ändern müssen."
Die Proteste zeigen Wirkung: Drei Wochen nach Nicolas Beerdigung ordnet Verkehrssenatorin Müller Tempo 30 an. Zudem wird die Fahrbahn von vier auf zwei Spuren verengt , der Verkehr stärker überwacht und eine Busspur pro Fahrtrichtung eingerichtet - die jedoch neun Jahre später vom Hamburger Senat, gebildet von CDU und Schill-Partei, wieder abgeschafft wird.
Mehr Sicherheit dank Blitzer?
Anwohner Jürgen Reifschläger steht auf der Stresemannstraße und zeigt auf die Radarfalle, die es seit 2003 gibt. Bis zu 200 Mal blitzt es hier - pro Tag. Das hat der Stadt in diesem Jahr bisher fast eine Million Euro eingebracht. Doch bringt der Blitzer auch mehr Sicherheit? Nein, findet Reifschläger: Dass so oft geblitzt wird, zeige doch wie rücksichtslos sich die Autofahrer verhalten. "Und wer langsam fährt, drückt nach dem Blitzer ohnehin wieder auf die Tube", meint er.
Die Polizei sieht das anders. Demnach liege die gefahrene Geschwindigkeit im Abschnitt der Blitzanlage deutlich unter der im Rest der Stresemannstraße und auf anderen Hauptstraßen. Claus Reuter leitet die Wache Lerchenstraße. Im Gespräch mit NDR.de sagt er: "Dass die Autos langsamer fahren, liegt an den beiden stationären Geschwindigkeitsanlagen." Zudem glaubt er nicht, dass die Stresemannstraße besonders gefährlich für Passanten und Radfahrer ist: "Bei den Unfällen sind vor allem Autos beteiligt. Das ist der Eindruck unserer Beamten, die täglich vor Ort sind."
Anwohner Reifschläger: "Für die Sicherheit wird zu wenig getan"
Für Anwohner Reifschläger ist die "Strese" dennoch ein ungelöstes Verkehrsproblem, das dem Senat spätestens seit dem Tod von Nicola vor 30 Jahren bekannt sein dürfte. Sehr gut erinnert er sich auch an den jüngsten tödlichen Verkehrsunfall am 24. Oktober 2012: Damals wird eine Fußgängerin unter der Sternbrücke zwischen Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße von dem Außenspiegel eines zu schnell fahrenden Lkw erfasst und zu Boden geschleudert.
ADAC für mehr Ampeln und Fußgängerüberwege
Seit 40 Jahren schon wohnt Reifschläger in einem Altbau an der "Strese". Seit jeher werde hier zu wenig für die Sicherheit getan, sagt er. Dabei hat der Rentner ein paar Ideen, welche seiner Meinung nach die Lage verbessern könnten: Mehr Ampeln und Fußgängerüberwege - das sind auch die Empfehlungen des ADAC. Demnach sollten die Einnahmen von Blitzanlagen für solche Maßnahmen verwendet werden.
"Hier muss endlich etwas getan werden", meint Reifschläger und blickt auf die Verkehrsinsel unweit der Unfallstelle: Einst haben Kinder hier zum Gedenken an Nicola Blumen gepflanzt. Heute sind nur grauer Beton und ein Verkehrsschild übrig geblieben. "Die wenigsten", sagt Reifschläger, "wissen, was hier passiert ist." Der Tod von Nicola S, die damals zum Entenfüttern an die Alster wollte. Heute wäre sie 39 Jahre alt.