Rote Flora: Aktivisten besetzen 1989 altes Varieté-Theater
Einst prachtvolles Varieté-Theater, heute autonomes Zentrum: Die Rote Flora in Hamburg wurde am 1. November 1989 besetzt. Sie ist das am längsten besetzte Haus der Bundesrepublik - mit einer bewegten Geschichte.
Draußen weht der Herbstwind um die Mauern der Roten Flora, während drinnen ein Deichkind-Beat aus den Boxen scheppert. "Krawall und Remmi Demmi!" rappen die Hip-Hopper da. Doch in der Kneipe des linksautonomen Kulturzentrums im Hamburger Schanzenviertel erinnert beim Ortstermin 2019 nichts an das, was hier besungen wird. Von der Decke hängt eine Discokugel, an der Wand steht in großen Lettern das Wort "Liebe". Junge Menschen nippen an ihren Bieren. Hier sind auch Gäste, die nicht Teil des Flora-Kollektivs sind und anonym bleiben wollen. Einer sagt: "Der herrschende Kapitalismus braucht eine Alternative. Das unterstütze ich gern, denn dafür kämpft die Flora."
Diesen Kampf führen die "Rotfloristen" seit ihrer Besetzung am 1. November 1989, immer mit der Option, auch Gewalt für ihre Ziele zu verwenden - und das in einem Haus ohne Mietvertrag und ohne Hausmeister. Die Rote Flora ist Deutschlands am längsten besetztes Gebäude und ein Symbolort mit bewegter Geschichte.
Beginn als "Gesellschafts- und Concerthaus Flora"
Diese Geschichte beginnt im Jahr 1889 mit der Eröffnung des Gebäudes als "Gesellschafts- und Concerthaus Flora" - ein prunkvolles Varieté-Theater, in dem bis zum Zweiten Weltkrieg viele Aufführungen gezeigt werden. In der Nachkriegszeit gibt es kaum noch Inszenierungen, weil sie zu kostspielig sind. In der Folge wechseln die Eigentümer und das Gebäude am Hamburger Schulterblatt wird unter anderem als Kino "Flora Filmpalast" genutzt, bevor im Jahr 1966 eine Filiale des Schnäppchenmarkts "1000 Töpfe" die Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Hauses bezieht und bis Ende der 80er Heimwerkerbedarf verkauft.
"Phantom der Oper" in der Flora?
1987 plant ein Investor, aus dem einstigen Prachtbau, der zunehmend verfällt, ein Musical-Theater zu machen. "Das Phantom der Oper" soll am Schulterblatt laufen, so die Idee von Unternehmer Friedrich Kurz. Er und weitere Investoren sehen für Hamburgs neuen Touristenmagneten rund 450 Parkplätze und dazu noch 220 Busparkplätze vor. Ein Plan, der bei der Stadt auf Begeisterung stößt.
Ganz anders sieht das bei den Menschen aus, die im Schanzenviertel leben. Der Flyer einer Bürgerinitiative nennt die wesentlichen Kritikpunkte: "Erhöhtes Verkehrsaufkommen durch Touristenautos und -busse, dadurch viel mehr Lärm". "Die Anwohner und Gewerbetreibenden hatten Angst, dass sie vertrieben werden", erinnert sich Hans Martin Kühnel im Gespräch mit dem Hamburg Journal und NDR.de 2019. Kühnel ist "Rotflorist" der ersten Stunde und gehört damals als 29-jähriger Student zu den älteren Aktivisten, die statt des Musical-Tempels ein nichtkommerzielles Kulturzentrum aufbauen wollen.
Erste Straßenschlachten
Der von SPD und FDP geführte Senat bemüht sich, den Menschen zu versichern, dass niemand aus dem Schanzenviertel verdrängt wird. Doch das politische Klima wird radikaler. Es kommt zwischen Gegnern des Projektes und der Polizei zu Straßenschlachten. Wegen der monatelangen Proteste im Stadtteil und einer Besetzung der Baustelle durch Demonstranten ziehen sich die Investoren aus dem Projekt zurück. Ein neues Haus entsteht an der Holstenstraße: die Neue Flora, wo bis heute Musicals laufen.
1. November 1989: "Die Rote Flora lebt!"
Die Stadt erlaubt im August 1989 den Aktivisten, in der Flora vorübergehend ein Kulturzentrum zu errichten. Nach dem Ablauf der Nutzungsfrist rechnen die Protestler mit der Räumung. Deshalb wird am 1. November 1989 das Gebäude für besetzt erklärt. Es ist die Geburtsstunde der Roten Flora. Anfangs haben die "Rotfloristen" vor allem die Anwohner im Blick und bieten eine sogenannte Volxküche und Erwerbslosenfrühstück an. Bei der ersten Pressekonferenz singen die Besatzer "Beim Kämpfen und Vokü-Essen / Vorwärts und nie vergessen / Die Rote Flora lebt"!
Hans Martin Kühnel, bis heute in der Flora aktiv, erlebt die erste Nacht der Besetzung nicht im ehemaligen Varieté-Theater. Er steht stattdessen vor einer Polizeiwache in der Nähe und beobachtet, ob dort eine Räumung vorbereitet wird. "Für den Fall, dass sich da etwas getan hätte, haben wir eine Telefonkette organisiert", erzählt er. Aber es tut sich nichts. Auf der Website der Roten Flora heißt es dazu: "Der Bezirksamtsleiter verzichtet aus unerklärlichen Gründen auf eine Räumung."
Erzählcafé und Küche für alle
Anfang der 1990er-Jahre gelingt den "Rotfloristen" mit ihrem autonomen Kulturzentrum, was eigentlich die Stadt mit dem Bau des kommerziellen Musical-Theaters schaffen wollte: ein Ort, der überregionale Strahlkraft hat und zugleich ein Stadtteilquartier ist. Das Motto lautet "Flora für alle". In den ersten Jahren der Besetzung veranstaltet Flora-Aktivist Kühnel mit anderen ein Erzählcafé für Anwohner und einen Rentner-Kaffeeklatsch.
Schanze wird Szeneviertel
Die Besetzer wollen ihr Viertel vor der Kommerzialisierung durch Großveranstaltungen und Luxussanierungen schützen. Anfangs sorgt das für Akzeptanz in der Nachbarschaft. Doch das ändert sich Ende der 90er-Jahre, als die Drogenszene sich zunehmend aus der Innenstadt in die Schanze verlagert. Die Flora setzt daraufhin ein Statement zur städtischen Drogenpolitik und richtet einen "Druckraum" für Heroinabhängige ein. Doch Anwohner und Gewerbetreibende klagen über die Zustände im Viertel. Die Stadt will die Junkies mit Polizeieinsätzen vertreiben - die "Floristen" antworten mit Krawallen. Als der "Fixstern" am Schulterblatt geschlossen wird, sind kaum noch Drogenabhängige im Schanzenviertel zu sehen. Es kommt zum Wandel des Stadtteils, den die "Rotfloristen" immer befürchtet hatten.
Aktivist: "Flora hat Schlachten verloren"
Sozial Schwächere müssen zugunsten wohlhabender Mieter weichen. Wohnungen werden saniert und von Menschen bezogen, die den alternativen Charme des Viertels schätzen. Die Schanze ist zum "Szeneviertel" geworden. Dagegen kann auch die Rote Flora nichts ausrichten. "Man muss sagen, dass die Flora Schlachten verloren hat", sagt Flora-Aktivist Andreas Blechschmidt in einem Podcast der Tageszeitung "taz".
Flora als Teil der Gentrifizierung
Die Rote Flora, die einst als Kampfansage gegen die Gentrifizierung gedacht war, gehört spätestens seit Anfang der Nullerjahre selbst zum Standortfaktor. Dennoch bleibt die illegale Besetzung für den sozialdemokratischen Senat ein Problem, das sie 2001 zu lösen versucht: Er verkauft die Immobilie für 190.000 Euro an den Kulturinvestor Klausmartin Kretschmer. Der Kaufvertrag enthält Bedingungen, die den neuen Besitzer zur Duldung der "Floristen" verpflichtet und einen Weiterverkauf oder Kommerzialisierung untersagt. Der damalige Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) nennt Kretschmer einen Idealisten - von den Flora-Aktivisten bekommt der Unternehmer Hausverbot.
Als Kretschmer, von Geldsorgen geplagt, die Rote Flora an einen privaten Investor weiterverkaufen will, kauft die Stadt 2014 das Haus wieder zurück - für 820.000 Euro, auf Initiative von Bürgermeister Olaf Scholz, für den drei Jahre später - beim G20-Gipfel in Hamburg - die Rote Flora zum Problem wird.
G20-Krawall: Hort linker Gewalt?
Im Juli 2017 kommt es tagelang zu schweren Krawallen, auch vor den Türen der Flora. Vermummte lösen Gehwegplatten aus dem Boden und verletzen damit Polizisten, die ihrerseits auch hart durchgreifen. Flammen lodern vor den Fassaden der Häuser im Schanzenviertel. Dunkle Gestalten plündern Läden und verbrennen Autos. Anwohner verbarrikadieren sich aus Angst vor dem schwarzen Block in ihren Wohnungen. Nach dem Gewaltexzess heißt es aus dem Hamburger Rathaus, die "Rotfloristen" hätten die Randale erst in die Stadt geholt.
CDU fordert Räumung
Die Hamburger CDU fordert, die Flora räumen zu lassen - und Olaf Scholz schließt die Räumung der Flora zumindest nicht mehr aus. Doch dazu kommt es nicht. Denn der Sonderausschuss, der die G20-Ausschreitungen aufarbeiten soll, gelangt zu dem Ergebnis, dass die Gewalt vorwiegend von ausländischen Extremisten ausging. Ihnen hätten die lokalen Strukturen zwar geholfen, aber strafrechtlich liege nichts gegen Hamburgs Autonome vor. "Wenn wir etwas im polizeilichen Hellfeld gehabt hätten, hätte ich es jetzt gesagt", so Soko-Leiter Jan Hieber im Sonderausschuss.
Im September 2019 relativiert der Senat seine G20-Bilanz in einer Antwort auf eine AfD-Frage. Demnach kommt nun doch ein Großteil der Tatverdächtigen aus Hamburg und Umgebung.
Rote Flora will unbequem bleiben
Danach wird es ruhiger um die Rote Flora. Der 1. Mai und das Schanzenfest, sonst Anlässe für Krawalle, bleiben friedlich. Aus Senatskreisen heißt es, man wünsche sich für die Flora künftig eine ähnliche Entwicklung wie im Gängeviertel, das zunächst auch illegal besetzt war und dessen Zukunft dank eines Vertrags gesichert ist.
Bisher haben die "Rotfloristen" jedes Angebot verweigert, ihr Projekt auf legale Füße zu stellen. Ein Miet- oder Kaufvertrag widerspricht ihrem Selbstverständnis, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu hinterfragen. Das Kulturzentrum wird seit 2014 von der städtischen Lawaetz-Stiftung treuhänderisch verwaltet - dennoch wird die Forderung nach einer Räumung immer wieder laut. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sieht allerdings keinen Anlass für eine Flora-Schließung.
Aktivist Kühnel sieht das naturgemäß genauso. Für ihn ist klar, was die Flora in jedem Fall bleiben soll: ein Ort, wo linke Debatten geführt werden und der dabei auch unbequem sei. "Wir bleiben ein Stachel im Fleisch der Herrschenden."
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung des Textes fehlte die Information, dass der Hamburger Senat im September 2019 seine G20-Bilanz relativiert hat.