175 Jahre Deutschland-Lied: Murmeln im Glanze
Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal den Text der deutschen Nationalhymne mit Inbrunst und voller Lautstärke geträllert? Wer jetzt lange überlegen muss, ist nicht allein. Auch wenn der Text zu dem Lied in dieser Woche 175 Jahre alt wird, hat sich eines seit Jahrzehnten nicht verändert: Die Deutschen haben ein verkrampftes Verhältnis zu dem Lied, das ja eigentlich ihren Namen trägt: das "Lied der Deutschen". Das zeigt auch die jüngste Diskussion um Diskuswerfer Christoph Harting und sein "Hymnen-Gate", oder auch die Peinlichkeit um Sarah Connor und die von ihr zu "brüh im Lichte" umgedichtete Textstelle. Doch wie kommt das? Forscher glauben, Schuld sei der öffentliche Umgang mit dem Werk. Und eine gehörige Portion Scham.
Deutsche sind am unpatriotischsten
Distanziertheit, Unsicherheit, Beklemmung - als August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das "Lied der Deutschen" am 26. August 1841 schrieb, hatte er wahrscheinlich andere Absichten im Sinn. Doch einige Generationen später sind es die vorherrschenden Gefühle, die uns Deutsche ereilen, sobald das getragene "Einigkeit und Recht und Freiheit ..." erschallt. Besonders trifft das scheinbar auf Deutschlands Jugend zu. So zumindest die Erkenntnis einer Studie zu nationalen Identitäten, in der über 6.000 Jugendliche verschiedener europäischer Nationen befragt wurden und in der es auch um die Verbindung zu nationalen Symbolen ging. Regelmäßig landeten die Deutschen hier auf dem letzten Platz. Wie es zu derart negativen Reaktionen kommt? "Das liegt am öffentlichen Stil", meint der Studien-Leiter Ulrich Schmidt-Denter von der Universität Köln. Ein Beispiel sei der Sport. So habe er beobachtet, dass selbst Fußballer oder andere Sportler die Nationalhymne oft nicht mitsingen oder nur verhalten vor sich hin murmeln. "Das lebt diese Distanz und Unsicherheit erst vor", so Schmidt-Denter.
Hymne führt zu Kloß im Hals
Und es zeigt: Auch Erwachsene haben dieses gespannte Verhältnis. Doch bei jungen Menschen greife es früher, sagt der Psychologe. Er berichtet dabei gerne von dem Fall einer jungen Studentin, die bei einem Aufenthalt an einer australischen Universität gebeten wurde, ihre Nationalhymne zu singen. Die australische Hymne zu singen ist dort Alltag. Die Reaktion der jungen Frau: Sie bekam einen Kloß im Hals und fing an, zu weinen. Ulrich Schmidt-Denter glaubt, derart starke Emotionen ließen sich nur mit Sozialisation erklären. Vor allem die intensive Auseinandersetzung mit Drittem Reich und Holocaust in der Schule hätten demnach einen nachhaltigen Einfluss. Junge Menschen fühlten sich dann in ihrer Identität verunsichert und empfänden Schuld- und Schamgefühle. Deutsch sein - das ist eben immer auch Leben mit den Schatten der Nazi-Zeit.
Amerikaner sind Hymnen-Weltmeister
Deutschlands besondere Geschichte erkläre auch, warum andere Nationen mit ihrem National-Lied scheinbar völlig ungeniert umgehen, so Schmidt-Denter. Im europäischen Vergleich tun sich demnach dabei vor allem die Franzosen und Polen hervor. Und international sind es neben den Australiern vor allem die anderen angelsächsischen Nationen. Allen voran die USA. Auch dort gab es vor Kurzem einen Hymnen-Eklat während der Olympiade. Und er war weit lapidarer als im Fall Christoph Harting: Nachdem sie eine Goldmedaille gewann, hatte die Turnerin Gabby Douglas beim Erklingen der amerikanischen Hymne nicht ihre Hand aufs Herz gelegt. Ein Shitstorm in den sozialen Medien folgte - trotz der ausdrücklichen Entschuldigung der Sportlerin. Der Grund: In den Staaten ist das Singen des "Star-Spangled Banner" gesetzlich vorgeschrieben. Auch, wie man sich dabei zu verhalten hat. Dazu ist das Lied kulturell tief verankert: Es kommt in zahlreichen Filmen vor und wird wie selbstverständlich vor Sport-Events gesungen. Selbst Musik-Giganten wie Slash oder Lady Gaga haben schon zu ihrer Hymne gerockt. Zur 200-Jahr-Feier des Liedes war selbstverständlich Präsident Obama anwesend.
Hoffmann von Fallersleben ein Nationalist?
Und in Deutschland? Die CDU hatte 2015 zwar auf einem Parteitag beschlossen, das "Lied der Deutschen" ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Regierung plane aber bisher keine derartige Initiative, heißt es auf Anfrage aus dem Bundesinnenministerium. Auch nicht zum Jubiläum. Wird die deutsche Nationalhymne zu Unrecht stiefmütterlich behandelt? Im Hoffmann-von-Fallersleben-Museum in Wolfsburg findet man, ja. Auch wenn die schwierige Geschichte des Liedes dort gut bekannt ist: Im Dritten Reich wurde nach der ersten Strophe "Deutschland, Deutschland über alles..." das Horst-Wessel-Lied gesungen - ein Grund warum das "Lied der Deutschen" nach 1945 fast nicht mehr zur Hymne wurde. Kritik am Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben selbst, wonach dieser ein Frankreich-Hasser und Nationalist gewesen sei, weist die Leiterin des Museums, Gabriele Henkel, aber zurück: "Er dachte nie, dass Deutschland überlegen sei. Er hatte stattdessen die Vision eines geeinten und fortschrittlichen Nationalstaats mit Bürgerrechten." Auch Antisemitismus-Vorwürfe findet die Museumsleiterin falsch: "Er kannte viele Menschen jüdischer Herkunft persönlich und schätzte sie."
Das Sommermärchen hat alles verändert
Im Verhältnis zu dem Lied sieht Henkel in den vergangenen Jahren einen Positiv-Trend. Seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland und dem "Sommermärchen" wandele sich generell der Umgang mit Patriotismus in unserem Land und auch die Art, wie die Nationalhymne gesehen wird, findet Gabriele Henkel: "Das Lied wird jetzt oft viel unbeschwerter und begeisterter gesungen." Sie sehe das in ihrem Museum, wo sich viele mit Lust an der Karaoke-Version der Hymne versuchen. Und auch Psychologe Ulrich Schmidt-Denter von der Universität Köln findet, dass auch wenn das Verhältnis zur Hymne ambivalent bleibt, in den letzten zehn Jahren ein Wandel auszumachen ist. Eigene Studien hätten das gezeigt. Doch die Deutschen werden eher schleichend zu Patrioten. Schmidt-Denter: "Da ändert sich etwas, aber nur langsam."