Wie eine Grenze seit 1920 Sprachen verschwinden ließ
Hochdeutsch und Plattdeutsch, Hochdänisch und Plattdänisch, Festlands- und Inselfriesisch: Schleswig-Holstein gilt als Sprachenland - dabei ist seit deutsch-dänischen Grenzziehung 1920 viel verloren gegangen.
1920 hat das Volk an zwei Tagen abgestimmt und damit die bis heute gültige Grenze zwischen Dänemark und Deutschland festgelegt. In Dänemark entstand in der Folge die deutsche und in Schleswig-Holstein die dänische Minderheit. Mit der neuen Grenze begann auch ein grundlegender Wandel in der bis dahin vielsprachigen Region. Zum 100-jährigen Bestehen der Grenze zeichnet NDR Schleswig-Holstein die Ereignisse und Hintergründe nach.
Mehrsprachigkeit bis 1920 gelebte Normalität
"Zuhause auf dem Hof wurde Sønderjysk gesprochen, in der Schule Hochdeutsch, bei der Familie des Vaters Friesisch und auf dem Viehmarkt in Tondern wurde auf Niederdeutsch gehandelt." So erinnert sich Emil Nolde an die Zeit vor der Grenzziehung. Bis 1920 war die Mehrsprachigkeit gelebte Normalität im Norden. Danach änderte sich mit dem Entstehen der nationalen Minderheiten Einiges.
Ein Beispiel sei die dänische Schule in Kupfermühle vor den Toren Flensburgs, meint Elin Fredsted, dänische Professorin, die lange an der Europa-Universität in Flensburg gelehrt hat. Kaum sei die Schule im August 1926 eingerichtet gewesen, mussten die Eltern nachsitzen. Sie sollten nun Hochdänisch (Reichsdänisch) lernen. Denn sie sprachen bis dahin Plattdänisch, also Sønderjysk. Mit dieser Sprache ist auch Fredsted aufgewachsen. Die Sprachen im Grenzland sind das Thema der dänischen Professorin.
* Für einen Vergleich von Sprachen eignet sich das Vaterunser, weil Inhalt und Diktion vielen Menschen bekannt sind.
Viele Sprachen in der Grenzregion
Mit Festlands- und Inselfriesisch, Plattdeutsch, Plattdänisch und den Hochsprachen Deutsch und Dänisch gilt Schleswig-Holstein heute als Sprachenland. Eine außergewöhnliche Vielfalt, die historisch gewachsen ist. Sønderjysk war im Herzogtum Schleswig bis runter zu einer Linie von Husum bis Eckernförde die übliche Sprache. Ausnahme war Nordfriesland, wo sich in zwei Wellen Festlands- und Inselfriesisch herausgebildet hatten.
Als im Mittelalter die Hanse als Vereinigung niederdeutscher Kaufleute erstarkte, breitete sich von Süden her Platt aus - erst als Handels-, dann als Amts- und Kirchensprache. Erst im 17. Jahrhundert kam das Hochdeutsche in den Norden. Es verdrängte in Flensburg Plattdeutsch als Amtssprache. Die Handwerker und Händler sprachen Plattdeutsch, Dienstboten und Bauern aus dem Umland Sønderjysk.
Bis weit in das 19. Jahrhundert war die Mehrsprachigkeit normal. Über allem stand der dänische König als Landesherr. Was seine Landeskinder sprachen, war abhängig vom Beruf, der sozialen Stellung und ob jemand auf dem Land oder in der Stadt lebte. Die Sprachen wechselten. So war in der Landschaft Angeln bis in die 1850er-Jahre Sønderjysk die Umgangssprache. Sie wurde vom Plattdeutsch abgelöst. Das passierte auch 50 Jahr später in Viöl. Kurz vor Husum - auf der nordfriesischen Geest gelegen - hatte sich dort bis etwa 1900 Sønderjysk gehalten, bevor es vom Plattdeutschen abgelöst wurde.
Dänisch hält sich durch Vereine
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Welt. Nicht mehr das Dorf, sondern die Stadt bestimmte die Lebenswelt der Menschen. Es wurde nach einer neuen gesellschaftlichen Klammer gesucht. Die wurde mit der Nation gefunden. Und weil Nationalgebiet und Sprache gleichgesetzt wurden, begann im Herzogtum Schleswig ein Sprachenkampf.
Den Aufschlag machten 1851 die Dänen. Sie wollten Reichsdänisch durchsetzen, um Sønderjysk, Platt- und Hochdeutsch zu verdrängen. Nach dem Krieg 1864 versuchten die Preußen, Hochdeutsch durchzusetzen. Ihren Höhepunkt erreichte die Borussifizierung von 1897 bis 1901 unter dem Oberpräsidenten Ernst-Mathias von Köller. Seine Politik, alles Dänische zu unterdrücken, führte genau zum Gegenteil. Es bildete sich ein reges Vereinsleben, um Dänisch zu sprechen, zu lehren und zu verbreiten. Der Bruch wurde während des Ersten Weltkrieges noch verstärkt, als viele Dänen für die Deutschen in den Weltkrieg ziehen mussten.
"Wenn wir sitzen, reden wir Sønderjysk"
Als die Grenze 1920 kam, beschleunigte sich der Prozess des Sprachrückgangs. Die 300-Seelen-Gemeinde Osterby - nun auf der Geest unmittelbar südlich der Grenze - verlor Sønderjysk und wechselte zum Hochdeutschen. Die neue dänische Minderheit bekam über ihr Schulwesen nun mehr Reichsdänisch. Derweil gab es nach 1920 auf der dänischen Seite starke Bemühungen, plattdeutsche Wörter aus dem Sønderjysk zu tilgen, die Sprache also zu danisieren.
Ausgerechnet die deutsche Minderheit in Dänemark hat sich seit 1920 um den Erhalt des Sønderjysk verdient gemacht. Denn sie pflegt Sønderjysk bis heute als Haussprache. "Wenn wir stehen, reden wir Hochdeutsch, wenn wir sitzen Sønderjysk", ist eine beliebte Aussage.
In Nordschleswig tut sich wieder etwas
Laut Elin Fredsted leben sich die Menschen in der Grenzregion heute sprachlich immer mehr auseinander. Durchgängig werde vor allem nach Deutsch und Dänisch getrennt. Dabei zähle Sønderjysk zu Dänisch, Platt zu Deutsch. Auf dem Festland und dem touristisch geprägten Sylt geht das Friesische zurück. Platt und Sønderjysk wurden über zwei Generationen von den Eltern nur noch selten an die Kinder weitergegeben.
Entlang der Grenze steht das Ergebnis nach 100 Jahren für Elin Fredsted fest: "Wir sind uns fremder geworden." Doch es tue sich etwas. "Jugendliche in Nordschleswig fangen an, in den sozialen Medien wieder in Sønderjysk zu chatten. An den Schulen bei uns wird wieder Plattdeutsch gelehrt. In Dänemark kommt Deutsch als Schulfach wieder in Mode." Der Nationalisierung nach der Grenzziehung, so hofft Fredsted, könne damit etwas entgegengewirkt werden.
Insgesamt, so das Fazit von Elin Fredsted, ist das Sprachenland Schleswig-Holstein durch die Grenzziehung sprachlich verarmt.