Brokstedt: Behörden in SH wussten von Straftaten des mutmaßlichen Täters
Der Mann, der in einer Regionalbahn bei Brokstedt mit einem Messer zwei Menschen getötet und fünf weitere verletzt haben soll, lebte jahrelang in Nordrhein-Westfalen. Dort beging er mehrere Straftaten, kam aber nie in Haft. Behörden in Schleswig-Holstein wussten von den Delikten.
Die tödliche Messerattacke in einem Regionalzug bei Brokstedt (Kreis Steinburg) hat am Dienstag auch den Landtag in Nordrhein-Westfalen beschäftigt. Der Rechtsausschuss kam in einer Sondersitzung zusammen. Der Grund: Der mutmaßliche Täter, der staatenlose Palästinenser Ibrahim A., lebte vor der Tat jahrelang in Euskirchen - und beging dort mehrfach Straftaten, darunter auch mindestens eine Körperverletzung.
Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung
Nach derzeitigen Erkenntnissen kam Ibrahim A. im Dezember 2014 nach Deutschland und wurde von 2015 bis 2020 bei der Ausländerbehörde Euskirchen geführt. Während dieser Zeit verurteilte ihn das Amtsgericht Euskirchen wegen gefährlicher Körperverletzung "mit einem scharfkantigen Gegenstand" zu einem Jahr Haft auf Bewährung, hieß es im Rechtsausschuss. Außerdem wurde zweimal eine Geldstrafe verhängt, für einen Diebstahl und einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Ibrahim A. kam offenbar "häufig mit dem Gesetz in Konflikt"
Offenbar gab es noch weitere Vorfälle: Der nordrhein-westfälische SPD-Abgeordnete Hartmut Ganzke sprach nach der Ausschusssitzung davon, dass Ibrahim A. "häufig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen" sei. Die große Frage an diesem Tag: Warum saß der Mann dennoch nie in Nordrhein-Westfalen in Haft? Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) betonte, dass Ibrahim A. eine Haftstrafe auf Bewährung bekommen habe. "Über weitere Ermittlungsverfahren haben wir den Rechtsausschuss in nicht-öffentlicher Sitzung unterrichtet." Mehr könne er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.
Staatsanwaltschaft Bonn bestätigt 20 Ermittlungsverfahren
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bonn bestätigte am Dienstag, dass gegen den Mann in Nordrhein-Westfalen mehr als 20 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien. Die meisten davon hätten allerdings eher kleinere Delikte betroffen und seien eingestellt worden. Rechtskräftig verurteilt wurde der Mann in NRW laut Staatsanwaltschaft in drei Fällen.
Kommunikation zwischen Bundesländern soll aufgearbeitet werden
"Wir fragen uns schon: Was ist in der Justiz in NRW los?", sagte der SPD-Abgeordnete Ganzke. Es müsse geklärt werden, wie die Justiz schneller agieren und das jeweils mögliche Strafmaß ausschöpfen könne. Ganzke forderte deshalb, das Körperverletzungsdelikte mit Messern künftig nur noch an Land- anstatt an Amtsgerichten verhandelt werden, also in der nächsthöheren Instanz. Die schwarz-grüne Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen kündigte an, die Regelungen zur Resozialisierung überarbeiten zu wollen.
Der Vorsitzende des Rechtsauschusses, Werner Pfeil (FDP), sagte, Fehler der Justiz für Nordrhein-Westfalen könne man im Moment nicht sehen. Es gehe aber insgesamt um Aufklärung, weil mehrere Bundesländer betroffen seien. "Wenn jemand im Rahmen der Freizügigkeit überall wohnhaft sein kann, kann er auch überall Straftaten verüben", so Pfeil. "Und da muss man schauen, wie man damit umgeht, wenn jemand so oft straffällig geworden ist."
Behörden in SH wurden über Straftaten informiert
Im Dezember 2020 zog Ibrahim A. aus Euskirchen weg. Wo er sich in den folgenden sieben Monaten aufgehalten hat, ist bislang unklar. Nach Angaben der Stadt Kiel tauchte A. dort erstmals am 2. Juli 2021 auf. Noch im selben Monat wurde die Zuwanderungsabteilung Kiel aus Nordrhein-Westfalen nach NDR Informationen darüber informiert, dass der Mann bereits mehrfach straffällig geworden war.
Die zuständige Stelle in Kiel habe dann unverzüglich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) davon in Kenntnis gesetzt, hieß es von der Stadt. Dennoch wurde im Oktober 2021 die Fiktionsbescheinigung, also das Aufenthaltsdokument von Ibrahim A., in Kiel zunächst verlängert.
Mutmaßlicher Täter in SH nie vor Gericht
In Schleswig-Holstein stand A. nie vor Gericht. Es liegen laut Innenministerin Sabine-Sütterlin-Waack (CDU) aber zwei polizeiliche Einsatzberichte vor - einer wegen einer Streitigkeit, einer wegen Ladendiebstahls. Außerdem erhielt A. im November 2021 Hausverbot in einer Gemeinschaftsunterkunft in Kiel, weil er dort unter anderem Mitbewohnerinnen und Mitbewohner bedroht und "auf dem Flur mit einem Messer hantiert" hatte, so die Landeshauptstadt.
Stadt Kiel: Infos wurden ans BAMF weitergeleitet
Ab Anfang 2022 hielt A. sich dann immer häufiger in Hamburg auf und soll auch dort Straftaten begangen haben. Am 9. März informierte die Hamburger Polizei darüber die Behörden in Kiel, weil A. zu diesem Zeitpunkt noch in der Landeshauptstadt gemeldet war. Auch diese Hinweise seien an das BAMF weitergeleitet worden, heißt es in einer Mitteilung der Stadt Kiel.
U-Haft in Hamburg war in Kiel zunächst nicht bekannt
Dass A. zu diesem Zeitpunkt in Hamburg bereits in U-Haft saß, war den Behörden in Kiel nach Informationen von NDR Schleswig-Holstein zunächst noch nicht bekannt. Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge von der Staatsanwaltschaft Itzehoe hatte einen Tag nach der Tat erklärt, dass A. nach den in Schleswig-Holstein geltenden Regelungen nicht als Intensivtäter gegolten habe.
Zu einer Haftstrafe wurde A. nur einmal in Hamburg verurteilt: Im Januar 2022 soll er vor einer Essensausgabe für Wohnungslose einen anderen Mann mit einem Messer schwer verletzt haben. Ein Amtsgericht verurteilte ihn deshalb zu etwa einem Jahr Haft. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt, A. blieb jedoch in U-Haft. Aus dieser wurde er am 19. Januar 2023 entlassen, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits rund ein Jahr eingesessen hatte.
Innen- und Rechtsausschuss in SH am Mittwoch
Ebenso wie in Nordrhein-Westfalen beschäftigt sich auch in Schleswig-Holstein der Innen- und Rechtsausschuss mit der Frage, wie die Behörden im Fall Ibrahim A. gehandelt haben und ob es Versäumnisse oder Fehler gab. Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Kiel sowie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nehmen dazu am Mittwoch Stellung. In Hamburg steht das Thema in der Bürgerschaft und im Justizausschuss am Mittwoch und Donnerstag ebenfalls auf der Tagesordnung.