Hausärzte am Limit - und immer mehr Praxen schließen
Immer mehr Hausärzte gehen in Rente - ohne Nachfolger. In Anklam ist die Situation besonders angespannt. Eine Praxis hat gerade geschlossen, drei weitere Hausärzte wollen bis Ende des Jahres in den Ruhestand.
Die Situation in Anklam (Landkreis Vorpommern-Greifswald) ist angespannt. In der Peenestadt hat gerade eine Hausarztpraxis geschlossen, drei weitere Hausärzte wollen bis Ende des Jahres in den Ruhestand gehen. Allgemeinmedizinerin Kristin Runge und ihr Mann Sören behandeln in ihrer Praxis rund 100 Patienten am Tag. Und täglich werden es mehr. "Es ist eben sehr viel Arbeit und die Situation bei uns in der Gegend ist so, dass wir immer mehr Patienten in die Praxis bekommen, weil ringsherum Praxen schließen", so Hausarzt Dr. Sören Runge. Der Tag sei mit 24 Stunden einfach zu kurz, wenn man die Arbeit bewältigen und die Qualität halten wolle.
Zu wenig Zeit für Patienten
Das Ärzteehepaar hat drei Kinder. Um den Praxisalltag zu meistern, muss es sehr organisiert vorgehen, die Patienten unter sich aufteilen und alles so zügig wie möglich abarbeiten, damit die Wartezeiten nicht ausufern. Ihre vier Praxisschwestern koordinieren die Patientenströme, kümmern sich um die Laboruntersuchungen, Dokumentationen, Überweisungen und Termine.
Täglich kommen neue Patienten dazu
Sören Runge behandelt gerade eine 85-jährige Patientin, deren Hausärztin in Rente gegangen ist. Mindestens zehn Minuten braucht er, um die komplexen Arztbriefe zur Vorgeschichte der Patientin zu lesen. Dann spricht er lange mit ihr, um ihren Krankheitszustand zu beurteilen. Anschließend muss sein Praxisteam den umfangreichen Medikamentenplan anpassen. Das alles kostet sehr viel Zeit, die der Praxis nicht ausreichend vergütet wird. Täglich kämen neue Patienten hinzu, sagt Runge. Dennoch nimmt er sich Zeit. In seiner Praxis wird niemand weggeschickt.
Keine Zeit für eine Pause
Sören Runge ist Allgemeinmediziner, Gastroenterologe, Internist und Notfallmediziner – hat jahrelang eine Notaufnahme in der Unimedizin Greifswald geleitet. Arzt: sein Traumberuf. Wenn er früh die Praxis betritt, warten über 20 unbestellte Patienten neben den bestellten. Zeit für eine Pause hat er nicht.
Denn zwischendurch müsse er noch Laborwerte kontrollieren, Befunde beurteilen, Anschlussuntersuchungen planen, Patienten anrufen, sich um nicht lieferbare Medikamente kümmern, Anträge für Renten, Versicherungen oder Schwerbehindertenausweise ausfüllen – oft bis in die Nacht hinein.
Radius für Bereitschaftsdienste verdoppelt
Neben der Arbeit in der Praxis hat er noch Bereitschaftsdienste. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald wurde erst kürzlich das Einsatzgebiet für den Bereitschaftsdienst von einem 25-Kilometer-Radius auf einen 50-Kilometer-Radius verdoppelt. Ein Problem für Runge. Er rechnet vor: "Jetzt fahren wir gerade in den Nordbereich, der früher nicht zu unserem Einsatzgebiet gehört hat und fahren jetzt knappe 45 Kilometer hin und zurück von Anklam aus und fahren dann zum nächsten Hausbesuch nochmal 30 Kilometer hin und zurück in eine andere Richtung, also heute scheint es eine lange Nacht zu werden", so Runge.
Von Leichenschau bis zum Schlaganfall
Er muss eine Leichenschau nach Suizid vornehmen, besucht einen aufgelösten Mann, der seine sterbende Mutter pflegt, besorgt einen Rettungswagen für eine Frau mit Verdacht auf Schlaganfall und behandelt eine Patientin mit schweren Herzrhythmusstörungen. Es geht mittlerweile auf 22 Uhr zu. Sören Runge ist seit mehr als 14 Stunden im Einsatz.
Ärztemangel wird sich verschärfen
Runge steht mit seinem Problem nicht alleine da. Der Ärztemangel ist Thema beim Ärztestammtisch. Die Politik könne sich nicht davon freisprechen, dass sie das nicht wusste, sagt Dr. Mark Wiersbitzky, Gastroenterologe in Anklam. "Die Geburtenrate war bekannt. Wer wann in Rente geht, war bekannt. Wir hätten vor zwanzig Jahren ein Einwanderungsgesetz gebraucht, wie Kanada oder Neuseeland, dass die arbeitswilligen Menschen an der Tür stehen und nach Deutschland wollen." Jetzt, so befürchtet er, laufe man in eine Situation, dass in den nächsten zwanzig Jahren in allen relevanten Bereichen – nicht nur in der Medizin – Fachleute fehlen werden.
Eine Entspannung der Situation ist nicht in Sicht. Morgen ab 8 Uhr heißt es in der Anklamer Hausarztpraxis jedenfalls wieder: Der Nächst bitte!