Wie Tiefengeothermie klimafreundliches Heizen ermöglicht
Die klimafreundliche Nutzung von Erdwärme zum Heizen könnte eine große Rolle bei der Energiewende einnehmen. Bislang hieß es oft, dass Tiefengeothermie für Norddeutschland nicht infrage komme - weil das Wasser in tiefen Gesteinsschichten nicht so heiß ist wie etwa in Süddeutschland. Schwerin macht nun vor, wie es geht.
René Tilsen ist der Mann, der sich bestens mit der Tiefengeothermie im Norden auskennt. Der Ingenieur ist 44 Jahre alt und Projektleiter für das neue Tiefengeothermie-Kraftwerk in Schwerin. Dieses soll ab kommendem Jahr Erdwärme nutzen, damit die Fernwärme-Heizungen in vielen Häusern Schwerins klimaschonender laufen können. 1.800 bis 2.000 Haushalte sollen davon profitieren. Bisher kommt die Fernwärme für diese Haushalte aus zwei Heizkraftwerken, in denen klimaschädliches Erdgas verbrannt wird.
Ein 1.300 Meter tiefes Bohrloch
Was hat es mit der Erdwärme auf sich? Unter der Erde - in Tiefen von 400 Metern und mehr - fließt häufig heißes Wasser durch Gesteinsschichten. Dieses Wasser ist erhitzt von den natürlichen Prozessen im Erdkern. Die Stadtwerke Schwerin haben nun im Ortsteil Lankow 1.300 Meter tief in die Erde gebohrt. "Die Geothermie bietet uns gerade im Wärmebereich eine Riesenchance", sagt Tilsen im NDR Info Podcast "Mission Klima - Lösungen für die Krise". Für ihn ist es ein Herzensprojekt. "In der Politik wird viel geredet, aber es wird zu wenig umgesetzt. Und ich bin immer ein Mensch, der gerne etwas umsetzt. Ich möchte, dass es meinen drei Kindern genauso gut geht wie mir."
Die Erdwärme ist auch im Winter da
Die Geothermie kennt Tilsen bereits aus seinem Wohnhaus - nur in kleinerem Maßstab. Er nutzt Erdwärme mithilfe einer Wärmepumpe im Keller. "Ich habe mein Haus im Jahr 2010 gebaut, und wir haben damals auf Geothermie gesetzt. Zwei Bohrungen bis in eine Tiefe von 70 Metern waren nötig." Ein Pluspunkt bei der Geothermie: Die Erdwärme ist immer vorhanden. Sie schwankt auch nicht je nach Wetter oder Jahreszeit, wie es bei Windrädern und Solaranlagen der Fall ist.
Bohrungen aus DDR-Zeiten helfen weiter
Das Millionen-Projekt der Stadtwerke Schwerin ist ungleich größer als das in Tilsens Wohnhaus - und risikoreicher. Mit einer Bohrung auf das begehrte heiße Wasser zu stoßen, ist nicht so einfach. Gut für das Vorhaben in Schwerin ist, dass schon zu DDR-Zeiten in der Region Geothermie-Bohrungen durchgeführt worden sind. "Und viele von diesen Daten liegen noch vor", erzählt Tilsen. "Wir konnten uns also mit den alten Untergrund-Karten ein ausreichend gutes Bild machen, um sagen zu können: Die Chancen sind sehr gut, dass wir Wasser finden werden. Und das hat uns ausgereicht, dieses Projekt weiter zu forcieren." Bei den Bohrungen bewahrheitete sich die Annahme, dass dass dort, wo heute Schwerin liegt, vor 250 Millionen Jahren ein Fluss verlief.
Eine Region mit Geothermie-Tradition
Das Kraftwerk in Schwerin führt eine Geothermie-Tradition in der Region fort. Zu DDR-Zeiten gab es nur 85 Kilometer Luftlinie entfernt mit Waren an der Müritz eine Stadt, die früh mit Geothermie geheizt hat. Schon 1984 ging dort ein Geothermie-Kraftwerk in Betrieb, es war das erste in Deutschland. Und einige Jahre später hat Neustadt-Glewe ein Geothermie-Kraftwerk gebaut. Die Stadt liegt nur etwa 30 Kilometer von Schwerin entfernt.
"Da unten ist viel mehr Wasser als erhofft"
Das Wasser in den tiefen Gesteinsschichten unterhalb von Schwerin zu finden, war nur ein erster Schritt. "Wir wussten noch nicht, wie viel Wasser vorhanden ist und wie warm es ist", erinnert sich Projektleiter Tilsen. Deswegen waren alle ziemlich gespannt bei der ersten Probebohrung: "Wir sind damals davon ausgegangen, dass das Wasser eine Temperatur von 49 bis 50 Grad hat." Tatsächlich hat das Wasser sogar 56 Grad. "Zudem ist da unten viel mehr Wasser, als wir je erhofft haben." Ein guter Start für das gewagte Projekt.
Erst mit Wärmepumpen wird das Wasser heiß genug
Für Fernwärme-Heizungen wird aber mindestens 80 Grad heißes Wasser benötigt. Die 56 Grad des Thermalwassers aus den tiefen Gesteinsschichten unterhalb Schwerins reichen da nicht aus. Die Stadtwerke haben für dieses Problem eine wegweisende Lösung gefunden: Sie setzen Wärmepumpen ein. Auf dem Gelände des Geothermie-Kraftwerks in Schwerin stehen hierfür mehrere Hallen. Zunächst kommt dort das 56 Grad heiße Thermalwasser in einen Wärmetauscher: Dadurch wird anderes Wasser, das dann später durch die Heizungen fließt, auf 56 Grad erwärmt. In einem zweiten Schritt entziehen Wärmepumpen dem geförderten Thermalwasser Wärme - mit der gewonnenen Energie wird dann das Fernwärme-Wasser weiter erhitzt - auf 82 Grad.
Einzigartiges Projekt in Europa
Dieses Zusammenspiel von Wärmepumpen und Tiefengeothermie ist einmalig: "Wir sind europaweit die ersten, die das in dieser Größendimension machen", sagt Tilsen. Das Besondere sei eben, dass das Thermalwasser aus der Region eigentlich zu kalt ist für das Fernwärme-Netz. In der Fernwärme-Branche stößt das Schweriner Projekt folglich auf großes Interesse. Es hat Auswirkungen auf ganz Norddeutschland: Bislang ging man davon aus, dass man mindestens 65 Grad heißes Wasser braucht, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Die Schweriner zeigen jetzt: Es geht auch mit kälterem Wasser - dadurch lässt sich Tiefengeothermie in viel mehr Regionen nutzen. Das ist eine gute Nachricht für den Klimaschutz.
"Geothermie hat ein riesiges Klimaschutz-Potenzial"
Das sieht auch Inga Moeck so. Sie ist Professorin für Angewandte Geothermik und Geohydraulik an der Universität Göttingen. Ihrer Ansicht nach ist das Klimaschutz-Potenzial der Geothermie riesig - ob mit Tiefengeothermie wie in Schwerin oder oberflächennah wie im Eigenheim von René Tilsen. "Der Wärme-Sektor stößt zurzeit in Deutschland zwischen 88 und 90 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente aus. Und wenn wir davon ausgehen, dass die Geothermie 40 Prozent der zukünftigen Wärmeversorgung abdecken kann, dann kann man davon ausgehen, dass durch die Nutzung der Geothermie 35 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden können."
Wie klimaschonend ist das Schweriner Projekt?
Bei dem Tiefengeothermie-Projekt in Schwerin kommt der Strom für die Wärmepumpen bislang aus drei Blockheizkraftwerken, die mit Erdgas laufen. Aber eine klimaschonendere Lösung ist schon in Sicht: Die Stadtwerke wollen diesen Strom bald mithilfe einer Biogasanlage produzieren - und dann wäre das Geothermie-Kraftwerk tatsächlich CO2-neutral. Aber auch jetzt schon sparen die Stadtwerke jede Menge Treibhausgase ein: "Bei uns sind es 7.500 Tonnen CO2. Das ist ein Vorteil. Der zweite Vorteil ist: Die Tiefengeothermie spart auch Platz. In ganz Deutschland suchen wir ja immer nach Platz für erneuerbare Energien, also für Windräder oder Solaranlagen. Bei der Geothermie ist es so: Wir brauchen nur zwei Bohrplätze und relativ wenig Anlagenbau."
Gut fürs Klima, aber ein finanzielles Wagnis
Was hat die Stadtwerke Schwerin bewegt, bei der Fernwärme auf Tiefengeothermie zu setzen? Klar, der Klimaschutz hat eine gewisse Rolle gespielt. Aber es geht den Stadtwerken auch darum, sich von Energie-Importen unabhängig zu machen und sich langfristig gegen steigende Preise abzusichern.
Ein Hemmnis waren aber lange Zeit die hohen Kosten für den Umstieg von Erdgas auf Tiefengeothermie: "Ganz am Anfang sind wir von Investitionen in Höhe von 15 Millionen Euro ausgegangen", sagt Projektleiter Tilsen. "Falls solch ein Projekt schiefgeht, ist das natürlich nicht gut." Aber schließlich sind die Stadtwerke Schwerin das Wagnis eingegangen. Mittlerweile haben sie sogar 20,5 Millionen Euro ausgegeben. Es gab zwar eine Förderung vonseiten der EU, aber den Löwenanteil der Kosten haben sie selbst gestemmt. Ursprünglich war geplant, dass sich die Investitionen für das Geothermie-Kraftwerk nach 20 Jahren gelohnt haben. "Inzwischen gehen wir davon aus, dass es sogar schneller gehen wird", sagt Tilsen.
Fernwärme-Kunden können sich auf niedrigere Preise freuen
Finanziell lohnt sich die Tiefengeothermie aber nicht nur für die Stadtwerke Schwerin. Tilsen schätzt, dass es in ein paar Jahren deutlich günstiger für die Fernwärme-Kundinnen und -Kunden in Schwerin wird. Ein Grund hierfür sei, dass die Betriebskosten bei der Tiefengeothermie wesentlich niedriger seien.
Und so wollen die Stadtwerke Schwerin noch drei weitere Geothermie-Kraftwerke bauen. Dann würden sie in zehn Jahren knapp die Hälfte der aktuellen CO2-Emissionen bei der Fernwärme-Erzeugung einsparen.
"Eine Tiefenbohrung wird sehr genau überwacht"
Sorgen von Anwohnern, dass durch Tiefengeothermie-Bohrungen Risse an Häusern in der Umgebung oder Löcher in Straßen entstehen, sind nach Ansicht von Experten unbegründet. "Solche Fälle hat es gegeben, aber die gehören gar nicht zur Tiefengeothermie, sondern zur oberflächennahen Geothermie", sagt Geothermie-Expertin Inga Moeck. "Es ist aber nicht der Normalfall, dass Risse oder Löcher entstehen, weil da der Boden unterspült wurde. Das ist am Anfang einer Technologie absolut unschön, aber natürlich lernt man aus jedem Punkt. Und die Tiefengeothermie, die bereitet uns diese Probleme nicht. Da sind die Genehmigungsprozesse andere: So eine Tiefenbohrung, die wird sehr, sehr genau überwacht und kontrolliert."