Verkehrswende auf dem Land: Im Norden wenig Alternativen zum Auto
Um die Klimaschutz-Ziele zu erreichen, könnte ein guter öffentlicher Nahverkehr auf dem Land hilfreich sein. Eine NDR Recherche zeigt: Die Ausgaben dafür variieren stark - und das Angebot nutzen hauptsächlich Schüler.
Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) im Norden wird in sehr unterschiedlichem Maß finanziell gefördert - das zeigen Daten, die das NDR Politikmagazin "Panorama 3" bei den 70 norddeutschen Landkreisen und kreisfreien Städten abgefragt und analysiert hat.
Sie zeichnen ein eindrückliches Bild vom Zustand der ÖPNV: So zeigen sich beim Blick auf die für den Nahverkehr zuständigen Landkreise und kreisfreien Städte erhebliche Differenzen bei den Ausgaben pro Kopf für den laufenden Betrieb. Die Daten beinhalten nicht die weiteren Ausgaben für Fahrzeuge oder Infrastruktur.
Nordfriesland investiert pro Kopf am wenigsten in den ÖPNV
In keinem Kreis wird dabei so wenig in den ÖPNV - inklusive Schülerbeförderung - gesteckt wie im Landkreis Nordfriesland in Schleswig-Holstein. Der Kreis investiert pro Einwohner 3,85 Euro für den Betrieb des Busverkehrs. Spitze unter den Kreisen ist der Landkreis Harburg in Niedersachsen. Dort wurden im Jahr 2021 pro Einwohner 85 Euro für den ÖPNV ausgegeben. Bis auf die Landkreise Cuxhaven und Aurich in Niedersachsen konnten alle angefragten Kreise und kreisfreien Städte in Norddeutschland Daten zum Nahverkehr für ihr Gebiet bereitstellen. Mit dieser Abfrage trägt der NDR Daten zusammen, die so gebündelt noch nicht verfügbar waren - denn bisher liegen nirgendwo in Deutschland zentral aktuelle Daten zum ÖPNV auf Kreisebene vor.
Die Stadtstaaten Hamburg und Bremen investieren insgesamt am meisten: So hat Hamburg 2021 rund 252 Euro pro Kopf für den ÖPNV ausgegeben, Bremen rund 96 Euro. Allerdings ist Hamburg ein Sonderfall, denn die von der Hansestadt genannten Aufwendungen umfassen auch Haushaltsmittel aus angrenzenden Kreisen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Eine Trennung ist an dieser Stelle nicht möglich. Daher sind die Zahlen für Hamburg nur bedingt vergleichbar mit den Angaben der Kreise in Norddeutschland.
ÖPNV wird hauptsächlich von der Schüler-Gruppe genutzt
Eine weitere wesentliche Erkenntnis der Abfrage ist, dass ein Großteil der Fahrgäste in vielen Kreisen Schülerinnen und Schüler sind. Im Kreis Dithmarschen lag ihr Anteil 2021 beispielsweise bei 95 Prozent. Im Umkehrschluss muss man daher feststellen: Erwachsene nutzen den ÖPNV in weiten Teilen des ländlichen Nordens wenig bis gar nicht.
Um die im Klimaschutzgesetz vorgegebenen Ziele zu erreichen, müssen insbesondere im ländlichen Raum Alternativen zum Auto vorhanden sein. Der Öffentliche Personennahverkehr könnte hier eine Schlüsselrolle spielen. Die Recherchen von Panorama 3 und NDR Data zeigen, dass der ÖPNV die Funktion eines Pkw-Ersatzes in weiten Teilen Norddeutschlands gegenwärtig kaum erfüllt. Zugleich nehmen - trotz öffentlicher Debatten über eine Verkehrswende - die Pkw-Zulassungen in Deutschland seit Jahren zu. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass die Pkw-Dichte in den vergangenen zehn Jahren durchgehend gestiegen ist. So lag der deutschlandweite Durchschnitt 2012 bei rund 534 Pkw pro 1.000 Einwohner. Zehn Jahre später, im Jahr 2022, lag der Bestand bei rund 583 Pkw pro 1.000 Einwohner - ein Zuwachs von knapp 10 Prozent.
Verkehrsforscher: "Wir leben in einer Automobil-Gesellschaft"
Doch wie passt der Fokus auf Klimaschutz und CO2-armer Mobilität mit zunehmenden Pkw-Zulassungen zusammen? Andreas Knie, Verkehrsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, meint: "Wir müssen einfach mal anerkennen, dass wir in einer Automobilgesellschaft leben. Und das ist auf dem Land noch mehr der Fall als in der Stadt. Wir sind in ländlichen Räumen - gerade wie Niedersachsen - in manchen Kreisen bei 700 Autos pro 1.000 Einwohner. Diese Menschen steigen nicht einfach in den Bus, wenn wir mehr Busse einsetzen würden."
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist in der Regel gleichbedeutend mit dem Busverkehr - und vom Schienenpersonennahverkehr (SPNV) zu unterscheiden. Für den regionalen Schienenverkehr sind die Länder zuständig. Ausgenommen davon sind in Niedersachsen die Region Hannover und der Regionalverband Großraum Braunschweig, die sich neben dem Busverkehr auch um den Schienenverkehr in ihrem Gebiet kümmern. Ähnlich ist es im Stadtstaat Hamburg.
Eine Milliarde Euro mehr für den ÖPNV
Die Finanzierung des ÖPNV und des SPNV wird zum Großteil über Mittel finanziert, die der Bund den Ländern für den Nahverkehr bereitstellt. 2023 werden dafür laut Bundesverkehrsministerium 10,9 Milliarden Euro pro ausgegeben, rund 1,9 Milliarden Euro davon landen im Norden. Die Länder bestellen mit diesen sogenannten Regionalisierungsmitteln den regionalen Schienenverkehr und geben den Rest weiter an die Kreise. Diese Regionalisierungsmittel sollen nun steigen: Ende des vergangenen Jahres hat die Bundesregierung beschlossen, die Regionalisierungsmittel um eine Milliarde Euro zu erhöhen.
ÖPNV trägt sich finanziell nicht von selbst
Manche Kreise - überwiegend in Niedersachsen - haben sich zu sogenannten Zweckverbänden zusammengeschlossen, in dem der Nahverkehr gemeinsam organisiert wird. Neben den Bundesmitteln müssen die Kreise und kreisfreien Städte selbst Eigenmittel in den Nahverkehr stecken. Die Fahrkarteneinnahmen decken häufig nur einen geringen Teil der tatsächlichen Kosten ab.
Bei der Recherche wurde das Vor-Corona-Jahr 2019 mit dem Jahr 2021 verglichen. Aktuellere Daten waren zu Beginn der Recherche nicht in jedem Fall verfügbar. Bei den Ausgaben wird deutlich, dass in nahezu allen Kreisen und kreisfreien Städten mehr und mehr Eigenmittel in den ÖPNV gesteckt werden.
Norddeutsche Kommunen investieren zunehmend in den Nahverkehr
So lagen diese Ausgaben in Mecklenburg-Vorpommern inklusive Schülerbeförderung 2019 bei rund 67,5 Millionen Euro. Zwei Jahre später waren nach dem NDR vorliegenden Informationen rund 95,5 Millionen Euro fällig. In Schleswig-Holstein stiegen diese Ausgaben nach NDR Informationen von 95,6 Millionen Euro auf 133,9 Millionen Euro.
Gewinne aus anderen Bereichen finanzieren den ÖPNV quer
Nicht nur bei den Ausgaben für den ÖPNV zeigen sich massive Unterschiede bei den Kreisen und Städten - auch bei der Finanzierung gibt es ganz unterschiedliche Modelle. So können Städte wie Wilhelmshaven, Emden oder Wolfsburg den defizitären ÖPNV über die eigenen städtischen Betriebe quersubventionieren. In der Regel wurden in großen Kommunen in der Vergangenheit Gewinne der Stadtwerke aus dem Geschäft mit Gas und Energie in den ÖPNV gesteckt. Infolge der aktuellen Energiekosten stellen sich nun neue Fragen, die durch die abgefragten Daten bislang nicht abgebildet werden.
Bei der Recherche wird deutlich, dass der ÖPNV im Norden eine sehr heterogene Struktur aufweist. In manchen Kreisen liegen beispielsweise nur Daten zur Schülerbeförderung vor. Der ÖPNV jenseits des Schülerverkehrs wird in manchen Kreisen von privaten Busunternehmen in Eigenregie betrieben. So ist es zum Beispiel im Kreis Wittmund in Niedersachsen.
Bedarfsplanung ist schwierig - datentechnisch sei man im "Blindflug"
Hinzu kommt eine wichtige Datenlücke: Wo auf welchen Strecken in welchem Zeitraum wie viele Menschen befördert werden, ist vielfach nicht bekannt. Auch in den meisten anderen Landkreisen liegen keine Angaben zur prozentualen Auslastung vor. Belastbare Zahlen lieferte hier der Zweckverband Bremen/Niedersachsen, zu dem eine ganze Reihe von Kreisen und Städten gehören. Demnach waren zum Beispiel die Busse im Kreis Ammerland im Jahr 2019 im Durchschnitt zu 6,5 Prozent ausgelastet.
Ein blinder Fleck, den auch Verkehrsforscher Knie kritisiert: "Bundesweit wissen wir im Moment tatsächlich nicht, wie viel Kunden und Kundinnen wir im ÖPNV haben. Es gibt geschätzte Zahlen, anhand von Aboverkäufen oder Tageskarten. Wie viele Menschen jetzt tatsächlich mit wie vielen Fahrten in Bussen und Bahnen unterwegs sind, wissen wir in Deutschland tatsächlich nicht. Und das bedeutet: Wir sind im öffentlichen Verkehr datentechnisch im Blindflug unterwegs". Das sei ein echtes Problem - denn um wirklich bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln, müsste man den genauen Bedarf kennen, so der Wissenschaftler.
Hinweis: Der Fernsehbeitrag wurde nach der Ausstrahlung an einer Stelle geändert. Es wurde zunächst an einer Stelle behauptet, dass der Bus für die Strecke zwischen Gehrde und Bersenbrück 1,5 Stunden braucht. Diese Aussage ist jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt des Tages richtig. Es fahren auch Busse direkt von Gehrde nach Bersenbrück, allerdings nicht sehr regelmäßig über den ganzen Tag verteilt. Daher bleibt der Umweg über Quakenbrück zu verschiedenen Zeiten des Tages der schnellste Weg, um mit dem ÖPNV von Gehrde nach Bersenbrück zu gelangen.