Touré zu EU-Asylreform: "Humanitäre Standards nicht vergessen"
Angesichts gestiegener Zahlen von Geflüchteten verhandeln die Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten über Änderungen am Asylsystem. SH-Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) sagte auf NDR Info, eine EU-Asylpolitik müsse die Menschen vernünftig und fair verteilen - und humanitäre Standards einhalten.
Vor den Beratungen der EU-Mitgliedsstaaten hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zuversichtlich gezeigt: "Wir werden das neue gemeinsame Europäische Asylsystem verabschieden, das einen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen vorsieht", sagte er der "Wirtschaftswoche".
Bundesregierung stimmt "Krisenverordnung" zu
Mit der geplanten Asylrechts-Änderung soll unter anderem die "irreguläre Migration" in die EU begrenzt werden. In diesem Zusammenhang hat Deutschland beim Gipfel in Brüssel der umstrittenen Krisenverordnung zugestimmt, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Mittag mitteilte. Die formale Abstimmung darüber werde aber erst in den nächsten Tagen folgen, erklärte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Donnerstagabend. Während Faeser sich zufrieden über eine "politische Einigung" zeigte, gab es während der Verhandlung offenbar Vorbehalte nicht nur aus Polen und Ungarn, sondern auch aus Italien.
Bisher hatte die Bundesregierung das Kernelement der Reform vor allem wegen Kritik der Grünen abgelehnt. Die "Krisenverordnung" sieht vor, dass bei einem besonders starken Anstieg der Migration der Zeitraum verlängert werden kann, in dem Menschen streng abgeschottet festgehalten werden können. Außerdem wären Mitgliedsstaaten nicht mehr verpflichtet, Asylbewerber zurückzunehmen, für die sie eigentlich zuständig sind, die aber in einen anderen EU-Staat weitergereist sind, wie tagesschau.de berichtet. Die Befürchtung der Grünen: In Krisensituationen könnten die Schutzstandards für Migranten in einer Weise abgesenkt werden, die sie für inakzeptabel halten. Scholz drängte am Mittwoch im Bundeskabinett aber offenbar mit Erfolg darauf, dass die EU-Krisenverordnung mitgetragen werden müsse.
SH-Sozialministerin Touré: "Große Herausforderung für die Kommunen"
Nötig ist so eine Einigung auch aus Sicht vieler Kommunen im Norden. In Schleswig-Holstein etwa hatten Landräte und Oberbürgermeister vor einer Woche einen Brief an die Sozial- und Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) geschrieben. Darin beklagten sie, dass die Lage dramatisch sei und sich viele Kommunen seit Monaten im Notfallmanagement befänden. Sie wüssten nicht mehr, wie sie eine menschenwürdige Unterbringung einschließlich der sozialen Betreuung gewährleisten können. Im Interview auf NDR Info sagte Touré am Donnerstag, "dass die Zahlen jetzt gerade Richtung Herbst noch massiver steigen, als wir vorher vermutet haben". Deshalb bringe das Land weitere Maßnahmen auf den Weg, um zusätzliche Plätze zu schaffen. "Ich glaube, die Situation vor Ort ist sehr angespannt. Das ist eine große Herausforderung für die Kommunen in Schleswig-Holstein", sagte Touré.
"Wenn alle ihrer Verantwortung gerecht werden, kann man Krisen bewältigen"
Allerdings müsse es ein besser funktionierendes Zusammenspiel mit den anderen für die Asylpolitik zuständigen Ebenen geben, so Touré. "Auf europäischer Ebene braucht es einen vernünftigen Rahmen. Auf Bundesebene braucht es eine Strategie und eine Finanzierung, die so gesichert ist, dass man jedes Jahr weiß als Land und Kommune: Womit muss ich arbeiten?" Das Land trage dann die Verantwortung, die Erstaufnahme zu organisieren, und die Kommunen seien für die dauerhafte Unterbringung und Integration zuständig. "Wenn jede Ebene wirklich ihrer Verantwortung gerecht wird, dann kann man Krisen bewältigen. Und ich glaube, dass wir da noch besser werden können und müssen, jeder auf seiner und ihrer Ebene", sagte Touré.
Touré: Ergebnis von EU-Asylreform "möglicherweise nicht so wie suggeriert"
In Bezug auf die Verhandlungen zur "Krisenverordnung" und den Asylrechtsänderungen auf EU-Ebene sagte die Landesministerin, dass die Ergebnisse möglicherweise nicht so sein werden, "wie man sie gerade monatelang proklamiert und damit ein Stück weit suggeriert" habe. "Wir haben als Grüne lange über die EU-Asylreform diskutiert, unter anderem auch über diese 'Krisenverordnung'. Der Kanzler hat dort jetzt ein Machtwort gesprochen und jetzt werden wir sehen, in den nächsten Wochen und Monaten, ob die Begrenzung, die man politisch proklamiert, tatsächlich auch stattfinden wird."
Es brauche eine europäische Asylpolitik, die vernünftig verteilt und fair verteilt, die Migration so organisiert, dass man nicht überfordert ist. "Aber dabei dürfen wir eben nicht humanitäre Standards vergessen."
CDU-Abgeordnete Düpont: Nicht mehr von Notlösung zu Notlösung hangeln
Die niedersächsische Europaabgeordnete Lena Düpont, migrationspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, sagte zur Aufgabe des deutschen Widerstands gegen die "Krisenverordnung", sie würde aus der Entscheidung des Bundeskanzlers noch keine Zeitenwende in dem Fall ableiten. Dazu müsse viel mehr auch auf nationaler Ebene angepackt werden, insbesondere, was die Aufnahmekapazitäten angehe und was die Unterstützung der Kommunen betreffe.
Düpont sagte im Interview auf NDR Info zur EU-Asylpolitik, "dass wir uns jetzt seit über zehn Jahren mehr oder weniger von Notlösung zu Notlösung hangeln". Es brauche aber gemeinsame europäische Vorschriften und Vorgaben für ein Asyl- und Migrationssystem. "Wir sind jetzt so weit, wie wir es bisher noch nicht gewesen sind. Das ist an sich schon ein guter Zustand". Bis Februar solle die neue Asylpolitik die EU-Institutionen passiert haben, sagte Düpont. "Wir haben zwischen den Institutionen Rat, Kommission, Parlament den Zeitplan gemeinsam vereinbart. Das heißt, wir ziehen auch alle gemeinsam an einem Strang." Probleme, die man auf europäischer Ebene lösen könne, müssten endlich auch gelöst werden.
Expertin: Jahrzehntelange Versäumnisse
Viktoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, sagte auf NDR Info, es habe in Deutschland jahrzehntelang Versäumnisse gegeben - etwa beim Wohnungsbau. Die hohe Zahl von Geflüchteten, die nun nach Deutschland kommen und eine Unterkunft benötigen, werfe nur ein grelles Licht auf den Mangel. Doch dieses Problem lasse sich nur langfristig lösen.
In der Diskussion um mögliche Sogwirkungen deutscher Sozialleistungen auf Geflüchtete sagte Rietig, das gut ausgebaute Sozialsystem in Deutschland sei nicht der Hauptgrund für Menschen, hierher zu kommen. Die zwei großen Faktoren, die Deutschland so attraktiv machten, seien auf der einen Seite Familie und Freunde von Geflüchteten, die bereits im Land seien. Und auf der anderen Seite stehe die Aussicht, hier einen Job zu finden, wenn auch oft nicht legal. Solange Deutschland der Ort sei, wo man als Geflüchteter wisse, dass der Cousin helfen könne, einen Job zu finden, solange seien die Sozialleistungen nur ein weiterer Anreiz unter vielen.